Innovationskraft und Wandelbarkeit
Wenn man an Erfindungen denkt, an Innovationen, an bahnbrechende Neuigkeiten, denken die wenigsten ans Handwerk. Heutzutage ist dieses Bild verbunden mit Forschenden und Technik-Nerds, mit Menschen in weißen Kitteln oder Leuten, die auf Computerbildschirme starren. In der öffentlichen Darstellung werden Handwerkerinnen und Handwerker oft vergessen. Oder sie werden romantisiert, als Berufsgruppe, die in einer Art vormodernem Idyll stehen geblieben ist. In einer Welt, in der die Dinge noch in monatelanger Arbeit Stück für Stück mit der Hand gearbeitet werden – und nicht einfach von einem Fließband fallen. Aber das ist ein Zerrbild. Im Handwerk entstanden einige der bahnbrechendsten Innovationen, Produkte und Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Und erstaunlich viele davon in Baden-Württemberg, wo viele Wirtschaftspioniere als Bastler begannen, die aus ihren Einfällen Weltkonzerne machten. Robert Bosch fing einst mit einer kleinen Werkstatt für Feinmechanik und Elektrotechnik an, in der er jene Zündkerzen entwickelte, die für seinen Weltkonzern die Basis bildeten. Gottlieb Daimler begann seine Karriere mit einer Ausbildung zum Büchsenmacher. Seine epochalen Erfindungen, die den Verbrennungsmotor revolutionieren sollten, entstanden in der Werkstatt, die er sich in seinem Haus in Bad Cannstatt eingerichtet hatte. Aber der König der Bastler war wahrscheinlich Artur Fischer, derjenige, der die Plastikdübel erfunden hat, die heute in Millionen Häusern Regale, Bilder und Lampen an den Wänden halten. Die Idee kam ihm unter der Dusche, hat er später mal erzählt. Mehr als 1.000 Patente hielt Fischer, der in Tumlingen im Schwarzwald zur Welt gekommen war. Fischer war ausgebildeter Schlosser. Selbst als er längst Multimillionär geworden war, bastelte er noch regelmäßig im Blaumann in seiner Werkstatt an neuen Ideen.
Das Handwerk war schon immer innovativer, als die meisten dachten – und wandelbarer. Während der Zeit der industriellen Revolution prognostizierten viele Ökonomen, dass das Handwerk neben der großen, effizienten Massenfabrikation komplett verschwinden würde. Dass es über kurz oder lang keinen Platz mehr für kleine Handwerksbetriebe gebe. Es sah zunächst auch nicht gut aus: In Baden-Württemberg zum Beispiel gingen Ende des 19. Jahrhunderts viele Uhrmacher pleite, die mit den großen Fabriken, die im Schwarzwald entstanden, nicht mithalten konnten. Aber der große Kollaps der Handarbeit blieb dennoch aus. Die Handwerker passten sich an. Sie produzierten nun aufwändige Einzelstücke für Kundinnen und Kunden, die exklusivere Produkte wollten. Oder sie spezialisierten sich auf Reparaturen. Das Gegenteil der Untergangsprophezeiungen trat ein: Die Zahl der Handwerker nahm während der industriellen Revolution zunächst zu, nicht ab. Die Handwerkerdichte verdoppelte sich in Deutschland zwischen 1895 und 1962. Und das Handwerk wurde immer profitabler, immer effizienter. In der Nachkriegszeit, zwischen 1949 und 1962, wuchs der Umsatz der Handwerksbetriebe innerhalb von nur 13 Jahren um unglaubliche 362 Prozent.
Heute arbeiten in Deutschland 5,6 Millionen Menschen im Handwerk. Allein in Baden-Württemberg gab es Ende 2022 mehr als 140.000 Handwerksbetriebe.