Zukunft lässt sich nicht aufhalten
In den kommenden Jahren stehen wir vor der Aufgabe, eine Transformation noch größeren Ausmaßes zu organisieren, um eine zunehmend polarisierte Gesellschaft wieder auf die richtige Spur zu setzen. Die meisten Menschen aber tun sich schwer mit Veränderungen. Sie scheuen das Risiko und wollen, dass die Dinge morgen einigermaßen so sein werden, wie sie gestern noch waren. Es ist diese Haltung, die jetzt nicht mehr funktioniert.
Wir haben uns in zu viele Widersprüche verstrickt: Die einen wollen mehr Sicherheit, die anderen mehr Freiheit, die einen mehr Wachstum, die anderen mehr Klimaschutz. Um all diese Forderungen harmonisch auszutarieren, sind wir gezwungen, in eine Welt aufzubrechen, die ganz anders ist als die, die wir heute kennen. Als Gesellschaft werden wir den Mut aufbringen müssen, anzuerkennen, dass wir vor einem tiefgreifenden Wandel stehen, der gerade erst begonnen hat.
Wir sehen deutlich wie lange nicht, dass unsere Demokratie nicht selbstverständlich ist, sondern permanent verteidigt und modifiziert werden muss, ja überhaupt, dass sich die vergangenen Jahrzehnte des Friedens nicht automatisch fortsetzen, sondern dass Frieden immer wieder neu erkämpft werden muss. Schon möglich, dass wir nach Jahrzehnten des Wohlstands bequem geworden sind und angesichts der nötigen Veränderungen Angst bekommen, aber Mut und Angst stehen in keinem Widerspruchs-, sondern in einem Spannungsverhältnis. Sie schließen sich nicht aus, sie ergänzen einander. Mut hat viele Facetten: Entschlossenheit, Selbstlosigkeit, Zivilcourage, Durchhaltevermögen, Charakterstärke, Tapferkeit, Emanzipation – brauchen werden wir sie alle.
„Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch“, schrieb Hölderlin vor 200 Jahren. Gerade in Zeiten der Unsicherheit tun sich mehr Menschen als sonst zusammen, um die Welt besser zu machen. Seit Monaten vergeht kein Tag, an dem man nicht von Menschen hört, die in Belarus (gegen den Diktator Lukaschenko), in Hongkong (gegen die Repressionen Chinas), in Russland (gegen die Verurteilung des Kremlkritikers Alexey Nawalny) oder in Myanmar (gegen die Machtergreifung der Militärjunta) auf die Straße gehen, um – teils unter Einsatz ihres Lebens – für eine gerechtere Welt einzustehen; genau wie die Menschen in der ehemaligen DDR, die vor über 30 Jahren die Berliner Mauer mit einer friedlichen Revolution zu Fall brachten. Mutig sind vor allem die Menschen, die etwas zu verlieren haben. Während sie in einer scheinbar aussichtslosen Situation über sich hinauswachsen, ziehen sich andere verbittert zurück, sehnen sich nach der „guten alten Zeit“ – die es so nie gegeben hat –, weil sie sich eine homogene Welt der Kontrolle wünschen, in der möglichst wenig Fremdes und Unberechenbares auftaucht. Während die einen Räume öffnen wollen, schließen die anderen Türen.
Großbritannien entschied sich für den Brexit, Ungarn und Polen wollen in der EU vor allem Rechte und weniger Pflichten wahrnehmen. Die USA, Russland, die EU, China – unser Planet ist in Blöcke geteilt, die sich argwöhnisch gegenüberstehen. Etliche Staatsmänner haben der Vielfalt den Kampf angesagt. Anstatt sich in die internationale Staatengemeinschaft einzugliedern und die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam anzugehen, tun sie so, als ließe sich in einer globalisierten Welt Ordnung herstellen, wenn jeder konsequent seine eigenen Interessen verfolgt – und vor allem anderen die Augen verschließt. Dabei lässt die Zukunft sich nicht aufhalten. Sie kommt, ob wir wollen oder nicht. Und deswegen ist es besser, sich darauf vorzubereiten, als zu meinen, man könnte sie absagen wie einen lästigen Zahnarzttermin.