Interview - Achtsamkeit im Netz
Digitale Resilienz

Zweieinhalb Stunden verbringen die Deutschen täglich am Smartphone, die Jüngeren noch länger. Dabei verpassen wir: das Leben. Zeit, umzudenken! Einen bewussten Umgang mit digitalen Medien können wir lernen. Wie das geht, verrät Petra Grimm, Leiterin des Instituts für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart.

Isabel Stettin
Lesedauer: 4 Minuten

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Frau Grimm, seit Jahren forschen Sie zu den Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Menschen. Fluch oder Segen?

PETRA GRIMM Beides. Für eine Studie haben wir Menschen zu ihren Ängsten und Hoffnungen angesichts der Digitalisierung befragt. Im Beruf sehen sie viele als Segen: Abläufe lassen sich beschleunigen oder vereinfachen. Im Privaten hingegen empfinden viele Menschen genau diese Beschleunigung als Fluch. Sie erleben mehr Stress und psychischen Druck, oberflächliche Beziehungen und das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Ich glaube, weder Resignation noch Technik-Euphorie helfen. Es liegt an uns, den digitalen Wandel so zu gestalten, dass wir als Einzelne und als Gesellschaft gewinnen.

Wie können wir unser Verhalten bewusster steuern?

PG Wir müssen lernen, Anforderungen von außen nicht blindlings nachzugeben: Möchte ich auf eine Nachricht direkt antworten? Wann brauche ich eine Pause vom Smartphone? Tut es mir gut, mich mit einer Influencerin zu vergleichen? Das zu entscheiden und danach zu handeln, erfordert Widerstandsfähigkeit – digitale Resilienz.

Was hilft uns, diese Resilienz aufzubauen?

PG Als Wegweiser haben wir die 10 Gebote der Digitalen Ethik (siehe unten) entwickelt: Der Schutz der Privatsphäre ist dabei zentral, aber auch die Frage, wie ich mir im digitalen Raum meine Meinung bilde, ohne manipuliert zu werden. Und es geht um Empathie und Achtsamkeit. Wir müssen uns im digitalen Raum nicht nur anderen gegenüber wertschätzend verhalten, sondern auch uns selbst gegenüber.

Nachrichten rauschen herein, Videos blinken auf – was macht diese Flut an Reizen mit uns?

PG Soziale Medien – bei jungen Menschen insbesondere TikTok – stimulieren das permanente soziale Vergleichen. Auch im Analogen tun wir das. Doch auf diesen Plattformen messen wir uns mit der ganzen Welt. Aus mehreren Studien wissen wir, dass Menschen eher unglücklich werden, wenn sie sich länger in sozialen Medien aufhalten. Oder wie Sören Kierkegaard sagte: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“

Wie können wir eine gelassenere Haltung entwickeln?

PG Dass wir uns aneinander messen, gehört zum Menschsein. Es geht darum, eine eigene Identität zu entwickeln. Entscheidend ist aber, wie so oft, die Dosis. Es kann entlasten, sich bewusst zu machen, dass wir nicht ständig Anerkennung und Aufmerksamkeit brauchen und auch nicht permanent erreichbar sein müssen. Sich dem Wunsch zu entziehen, immer einzigartig sein zu wollen, das kann uns schützen. Es hilft, das Smartphone regelmäßig wegzulegen und zu bestimmten Zeiten abzuschalten.

Zahlen und Fakten

Hass im Netz ist alltäglich und nimmt weiter zu. Das zeigt eine Studie des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz. Fast jede zweite Person in Deutschland (49 Prozent) wurde schon einmal online beleidigt. Ein Viertel (25 Prozent) der Befragten wurde mit körperlicher Gewalt und 13 Prozent mit sexualisierter Gewalt konfrontiert. Besonders häufig betroffen sind nach eigenen Angaben Personen mit sichtbarem Migrationshintergrund (30 Prozent), junge Frauen (30 Prozent) und Menschen mit homosexueller (28 Prozent) und bisexueller (36 Prozent) Orientierung.

(Quelle: „Lauter Hass – leiser Rückzug“, Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz, 2024.)

Rund ein Viertel der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland nutzt Social Media „riskant viel“ – das ergab eine Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Hochgerechnet seien es 1,3 Millionen Kinder und damit dreimal so viele wie im Vor-Corona-Jahr 2019.„Riskant viel“ bedeutet: ein häufiger und langer Gebrauch sozialer Medien mit erhöhtem Risiko für schädliche Folgen für die Gesundheit.

(Quelle: DAK­Studie Mediensucht, 2023/24.)

Viele Studien belegen negative gesundheitliche Auswirkungen exzessiver Smartphone­Nutzung. Aber wie viel ist zu viel? Müssen wir uns ganz vom Handy verabschieden, damit es uns besser geht? Nicht nötig, sagen Forscherinnen und Forscher der Ruhr­Universität Bochum. In einer Studie verglichen sie zwei Versuchsgruppen: Eine verzichtete im Versuchszeitraum komplett auf das Smartphone, die andere reduzierte die Smartphone­Nutzung um täglich eine Stunde. Fazit: In beiden Gruppen zeigten sich ähnlich positive Effekte auf Gesundheit und Wohlbefinden. In der Gruppe, die nur reduzierte, hielten diese Effekte sogar länger an.

(Quelle: Brailovskaia, J. et al., Finding the „sweet spot“ of smartphone use. Journal of experimental psychology, 2022.)

Wie können wir im Netz gut auf uns selbst und auf andere achtgeben? Die 10 Gebote der Digitalen Ethik geben Antworten. Studierende der Hochschule der Medien entwickelten sie unter der Leitung von Petra Grimm.

1
Erzähle und zeige möglichst wenig von dir.

2
Akzeptiere nicht, dass du beobachtet wirst und deine Daten gesammelt werden.

3
Glaube nicht alles, was du online siehst, und informiere dich aus verschiedenen Quellen.

4
Lasse nicht zu, dass jemand verletzt und gemobbt wird.

5
Respektiere die Würde anderer Menschen und bedenke, dass auch online Regeln gelten.

6
Vertraue nicht jedem, mit dem du online Kontakt hast.

7
Schütze dich und andere vor drastischen Inhalten.

8
Miss deinen Wert nicht an Likes und Posts.

9
Bewerte dich und deinen Körper nicht anhand von Zahlen und Statistiken.

10
Schalte hin und wieder ab und gönne dir eine Auszeit.
 

Warum fällt uns dieses Pausieren oft schwer?

PG Viele Websites oder Apps weisen „dark patterns“ auf, also manipulative Mechanismen, die Nutzerinnen und Nutzer dazu bringen, im Interesse des Anbieters zu handeln. Das heißt, länger online zu bleiben, mehr einzukaufen, als man wollte, länger zu spielen als geplant, Daten freizugeben, die wir schützen sollten.

Liegt es also allein an uns, uns selbst zu schützen?

PG Jeder und jede Einzelne braucht Medienkompetenz. Es geht auch darum, Grundwerte zu sichern. Wir erleben zurzeit eine politische Destabilisierung. Zudem sind Krieg, Klimawandel, Ressourcenknappheit, Migration und Armut gesellschaftliche Herausforderungen, die nicht einfach, auch nicht mit Technik, zu bewältigen sind. Desinformationskampagnen bedrohen unsere Demokratie. Gerade auf TikTok kursieren viele Fake News, sei es zum Ukraine-Krieg oder zu den Wahlen in den USA. Den Wahrheitsgehalt zu erkennen ist eine Schlüsselkompetenz. Dafür brauchen wir mehr Aufklärung und Medienethik, in den Schulen, den Unternehmen, der Zivilgesellschaft.

Was ist mit den Anbietern digitaler Dienste?

PG Die großen Plattformen wie Google oder Facebook sind in der Pflicht, ihre Dienste ethisch zu gestalten. Eine Vision von mir wäre zudem eine alternative Kommunikationsplattform, die befreit ist von ökonomischen Zwängen, bei der es nicht darum geht, Daten abzugreifen, die mehr moderiert wird und einen Austausch möglich macht. Ein geschützter Raum, ohne Hate Speech und Desinformation. Hierfür könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Verbund mit Organisationen der Zivilgesellschaft ein passendes Modell sein. Ich bin überzeugt, dass wir Digitalisierung demokratieverträglich gestalten können.

Petra Grimm

Petra Grimm ist seit 1998 Professorin für Medienforschung und Kommunikationswissenschaft an der HdM. Sie ist Gründerin und Mitglied im Leitungsgremium des Instituts für Digitale Ethik.

Aus der Stiftung – Stiftung Kinderland

Smart. Ohne Phone

„Als du mich geschimpft hast, sahst du mich nicht mal an. Sonst hättest du erkannt, dass mir damals die Tränen kamen.“ So rappt ein Teenager im Videoclip „Offline“ über seine Kindheit mit einer Mutter, die sich mehr mit ihrem Handy beschäftigte als mit ihrem Sohn. Der bewegende Clip ist einer von fünf Kurzfilmen, die im Wettbewerb Smart. Ohne Phone der Stiftung Kinderland entstanden. Unter dem Motto „Schenke deinem Kind Aufmerksamkeit, nicht deinem Phone“ macht sich die Stiftung für einen bewussten Umgang mit digitalen Medien in der Familie stark. Die Filme werden landesweit Kindergärten und Kindertagesstätten zur Verfügung gestellt, um Eltern gezielt für das Thema zu sensibilisieren. Hier sind sie zu sehen:
www.bwstiftung.de/phone