Zuversicht entsteht durch Handeln: Unter dieser Prämisse begeht die Baden-Württemberg Stiftung ihr Jubiläumsjahr. Ist Denken eigentlich auch Handeln?
Gabriel: Ich meine, dass philosophisches Denken in seiner reinsten Form eine Form von Handlung ist. Aber um Philosophien auf andere gesellschaftliche Bereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder auch die Künste anwenden zu können, müssen sie übersetzt werden. Normalerweise macht das nicht der Philosoph selbst. Aber ich habe damit begonnen und stehe in engem Austausch mit vielen Akteuren aus allen gesellschaftlich relevanten Bereichen. Gerade gründe ich eine GmbH mit einem bekannten Unternehmensberater. Wir wollen meine Idee der Neuen Aufklärung, die eine Annäherung an das Gute fordert, in die Welt bringen.
Wollen Sie Unternehmen philosophisch beraten?
Gabriel: Wir wollen die „Academy for Deep Innovation – Business, Philosophy, Science“ gründen, um eine neue Schnittstelle zu schaffen. Wir würden dann gerne Unternehmen beraten, aber auch neue Digitalprodukte im KI-Sektor schaffen, die von vornherein philosophisch durchdacht und ethisch geprüft sind. In der KI-Ethik nennt man dies „ethics by design“.
Manchmal funktionieren philosophische Ideen nicht wie gedacht.
Gabriel: Die Gefahr besteht natürlich. Denken Sie nur an den Marxismus oder an den Kettensägen Liberalismus, den wir gerade in den USA und in Argentinien erleben. Hier wird die gute Idee freier Märkte missbraucht. Aber die Dinge müssen sich eben nicht zum Schlechten wenden. Wir können jederzeit zuversichtlich sein, dass wir durch Handeln eine dunkle Zeit heller machen können.
Wie kann das in Krisenzeiten gelingen, in denen viele Menschen Angst vor der Zukunft haben?
Gabriel: Die Apokalypse passiert nur, wenn wir sie erwarten. Die Wirklichkeit bringt uns Handlungsoptionen entgegen – und wir können aus diesen Optionen auswählen. Darin äußert sich unser freier Wille. Wenn die Zukunft etwas ist, was uns einfach nur geschieht, dann scheitern wir. Wir müssen das Heft in die Hand nehmen und uns eine bessere Zukunft vorstellen.
Zuversicht bringt uns also ins Handeln?
Gabriel: Wir machen uns alle ein Bild von der Zukunft, das von Hoffnungen, Vorstellungen und Wünschen geprägt ist. Ich stelle mir zum Beispiel vor, wie mein Abendessen heute ablaufen wird. Aber ob es dann tatsächlich so kommt, weiß ich nicht. Ich kenne die Zukunft ja nicht. Trotzdem handeln wir diesen Vorstellungen entsprechend – und schaffen so Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit fiktionalisieren, also erfinden wir zu einem gewissen Grad dann wieder, indem wir sie interpretieren. Wer die Wirklichkeit leugnet, der wird irgendwann unweigerlich mit ihr kollidieren. Und wer die Fiktion nicht wahrhaben will, wird auch baden gehen. Das Wechselspiel aus Fiktion und Wirklichkeit macht es so wichtig, dass wir eine zuversichtliche Vision von der Zukunft haben. Eine solche existiert derzeit nicht, darum müssen wir es schaffen, vorwärts zu denken und zu handeln.
Wie sieht Ihre Vision aus?
Gabriel: Wir brauchen eine neue Lust am Guten. Das Gute war lange fad oder wurde abschätzig behandelt. Menschen wurden sogar als Gutmenschen diffamiert. Wir müssen uns wieder an positiven Begriffen wie Liebe, Dankbarkeit, Freundschaft oder eben Zuversicht orientieren. Diese Begriffe müssen durch entsprechendes Handeln mit Bedeutung gefüllt werden, damit sie nicht hohl bleiben. Die Bedeutung der Liebe ist der liebevolle Umgang. Wer Respekt fordert, muss auch respektvoll sein. Wer Führung anbietet, muss auch führen. Das, was man vorträgt, muss man ernst meinen. Ausnahmslos und in jeder Situation.
Ist das nicht ein hoher Anspruch?
Gabriel: Man muss seinen Worten treu bleiben. Das sind die Spielregeln. Zuversicht ist auch, daran zu glauben, dass die Erkenntnis des Guten der Leitfaden unseres Handelns sein kann. Wir müssen dafür allerdings einsehen, dass nicht das Gute uns, sondern wir dem Guten entsprechen müssen.
Aus welcher Quelle nährt sich Ihre Zuversicht?
Gabriel: Aus dem Glauben, dass es das Gute gibt. Das Böse ist leicht zu erkennen und wir stellen es nicht so schnell infrage. Syrische Folterkeller sind böse, das sehen wir. Aber beim Guten suchen wir immer nach dem Haken. Ist das jetzt wirklich so gut oder gibt es vielleicht auch unerwünschte Nebenwirkungen? Diese Attitüde konnten wir uns bis vor kurzem noch leisten. Wir müssen uns aber jetzt freimachen von der ewigen Kritik an allem, die ein Erbe der Aufklärung ist. Jetzt, da das Gute bröckelt, müssen wir Farbe bekennen und das Gute neu verhandeln. Ich für meinen Teil glaube fest an den moralischen Fortschritt – auch in dunklen Zeiten.