Pflanzensignale

Stehen sie unter Stress, machen Pflanzen Geräusche – zum Beispiel, wenn sie Wasser brauchen oder zu wenig Pflege bekommen. Mithilfe von Ultraschallsensoren und künstlicher Intelligenz will der Physiker Patrick Selle diese Signale für die Landwirtschaft nutzbar machen – und die Beziehung von Mensch und Natur neu denken.

Isabel Stettin

Rot leuchten die kleinen Tomaten in der Nachmittagssonne. Einzelne Blattspitzen färben sich bereits gelb; die Erde im Topf ist trocken. Patrick Selle rückt das Mikrofon noch ein Stückchen näher an die Pflanze – der Abstand beträgt etwa zehn Zentimeter. Dann beginnt er mit der Aufnahme. „Die Natur ist nicht so still, wie viele denken“, erklärt der Physiker und Datenanalyst. „Pflanzen erzeugen hochfrequente Töne im Ultraschallbereich, ähnlich wie Fledermäuse.“ Tiere können diese Laute hören; das menschliche Ohr aber kann sie nicht wahrnehmen. Seit 2019 arbeitet Selle am Institut für Mikro- und Informationstechnik von Hahn-Schickard in Villingen-Schwenningen. Dort leitet er das Forschungsprojekt „ULTRA-SAVE“, das von der Baden-Württemberg Stiftung gefördert wird. „Unsere Mission ist es, ein System intelligenter Sensoren zu entwickeln, das die subtilen Töne der Pflanzen erfassen und weiterverarbeiten kann“, sagt Selle.

 

Abgehört: Projektleiter Patrick Selle (rechts) richtet das Mikrofon aus. Noch besser gelingen die Aufnahmen in einem abgedämpften Raum. Professor Axel Sikora unterstützt das Projekt.

Wie Pflanzen klingen

 

Dass Pflanzen Geräusche machen, ist keine neue Entdeckung. Doch erst in den vergangenen Jahren haben wissenschaftliche Teams begonnen, sich mit den Mechanismen dahinter zu beschäftigen. „Es ist ein rein mechanischer Vorgang“, erklärt Selle. Daher gehe er zurückhaltend mit der Aussage um, dass Pflanzen tatsächlich „kommunizieren“ würden. Über die Blätter verdunstet Wasser, was einen Sog im Wasserleitgewebe der Pflanze erzeugt. Normalerweise ziehen die Wurzeln Wasser nach, um diesen Verlust auszugleichen. Doch bei Wassermangel entsteht ein starker Unterdruck, durch den sich kleine Luftbläschen bilden. Platzen diese, vibriert die Pflanze und erzeugt Töne, die wie ein kurzes Klicken klingen. Israelische Forschende konnten diese charakteristischen Signale 2023 erstmals aufzeichnen und für das menschliche Gehör „übersetzen“. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen will Selle die Töne der Natur analysieren. Für die ersten Messreihen räumte der Forscher ein Zimmer im Institut leer. Mit Schaumstoffmatten dämpfte er den Versuchsraum, um die Messelektronik von der Umgebung abzuschirmen. „Da die Töne der Pflanzen so subtil, fein und kurz sind, ist es unglaublich schwer, sie zu erfassen“, sagt Selle. Nebengeräusche könnten die Ergebnisse verzerren. Kein elektronisches Gerät darf in der Nähe in Betrieb sein, wenn die Messung läuft. Bevor Selle mit dem Aufzeichnen der Pflanzentöne beginnen konnte, waren zudem unzählige Tests ohne Pflanzen nötig, um Grenzwerte zu messen und sicherzustellen, dass die später aufgezeichneten Geräusche wirklich von Tomate und Chili stammen. Für die Aufnahmen verwendet der 35-Jährige neben klassischen Kondensatormikrofonen winzige MEMS-Mikrofone. Die Abkürzung MEMS steht für mikroelektromechanische Systeme, wie sie bei Hahn-Schickard konstruiert, produziert und integriert werden. Diese kleinen Ultraschallsensoren bestehen aus einer Membran, die Schallwellen in elektrische Signale umwandeln kann, und einem Verstärker. Als „digitale Ohren“ erfassen die Sensoren die akustischen Signale, die später am Monitor dargestellt und ausgewertet werden.

Abstand: Die Mikrofone werden in etwa zehn Zentimeter Entfernung von den Pflanzen aufgestellt.

Pflanzen im Stresstest

 

Selle forscht mit Tomaten- und Chilipflanzen und setzt sie dafür bewusst unter Stress. Dazu gehört es, sie ein paar Tage vor den Tonaufzeichnungen nicht zu gießen. Aus seinen stundenlangen Aufzeichnungen gewinnt der Physiker wichtige Erkenntnisse. „Die Geräusche unterscheiden sich und beinhalten Informationen. Eine gut gepflegte Pflanze erzeugt im Durchschnitt nur einen Laut pro Stunde, eine gestresste bis zu fünfzig Klicklaute.“ Allerdings nur tagsüber, denn nachts geht die Aktivität der Pflanzen gegen null. „Dann sind sie offenbar im Ruhemodus“, vermutet Selle. Mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) kann Selle die Daten verarbeiten und Muster erkennen, die auf Stresssituationen wie einen Wassermangel hinweisen. Die KI soll langfristig anhand der Töne unterscheiden lernen, ob eine Pflanze durstig ist, ob sie mehr Nährstoffe benötigt oder ob sie unter einem Schädlingsbefall leidet. Das Bemerkenswerte und Entscheidende: Die „Hilferufe“ könnten dann, lange bevor die Pflanze sichtbare Anzeichen von Erschöpfung zeigt und etwa die Blätter zu welken beginnen, Hinweise auf ihre Probleme geben.

Signale: Die Töne der Pflanzen sind hier wellenförmig dargestellt.

Pflanzenüberwachung mit KI

 

Erstmals können damit durch „ULTRASAVE“ Informationen direkt von der Pflanze gewonnen werden – anders als bei anderen Forschungsansätzen. „Smart Farming basiert bislang meist auf optischen Daten – etwa Drohnenbildern oder Messdaten von Bodenfeuchtigkeitssensoren. Unsere Methode ist direkter und weniger ressourcenintensiv“, betont Selle. Seine Hoffnung sei, dass Landwirte die Pflanzensignale irgendwann nutzen können, um etwa ihre Felder gezielter zu bewässern. „Das spart nicht nur Wasser, sondern sorgt für gesündere Pflanzen und damit bessere Ernten.“ Langfristig könnte die KI-gestützte Pflanzenüberwachung dabei helfen, die Ernährung für morgen zu sichern, und damit nicht nur die Landwirtschaft verändern, sondern auch die Art und Weise, wie wir unsere Gärten, Parks und Wälder pflegen, schätzen und schützen.

 

Abstimmung: Patrick Selle und Axel Sikora besprechen die Ergebnisse.

Sensoren in Serienproduktion

 

Regelmäßig diskutiert Patrick Selle den Stand seiner Forschung mit Axel Sikora. Der Professor für Embedded Systems und Kommunikationselektronik an der Hochschule Offenburg ist stellvertretender Institutsleiter von Hahn-Schickard in Villingen-Schwenningen. „Entscheidend ist für uns, dass wir nun zunächst die Umsetzbarkeit nachweisen“, sagt er. „Unser Ziel ist es, die Prototypensysteme so weit zu optimieren, dass eine kommerzielle Nutzung möglich wird.“ Selle arbeitet nun daran, die Sensoren und die KI-Modelle in Kooperation mit den Partnern beim Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Grenzflächen und Bioverfahrenstechnik weiter zu verbessern. Noch sind die Mikrofone zu teuer für den Endverbraucher. Doch irgendwann könnten sie sogar bei den Menschen zu Hause zum Einsatz kommen. Die MEMS würden dann im Blumentopf stecken. Pflanzenliebhaberinnen und Pflanzenliebhaber könnten die Technik nutzen, um ihre Pflanzen besser zu verstehen und zu pflegen. „ULTRA-SAVE“ ist auch ein erster Schritt, um die Beziehung zwischen Mensch und Natur neu zu denken. Kann man von einer einzelnen Pflanze auf ein ganzes Feld schließen, von einem Baum auf den Zustand des Waldes? Fragen wie diese, die über seine Forschungsarbeit hinausweisen, treiben Selle ebenfalls an: „Es geht für mich auch darum, unsere Umwelt besser zu verstehen und mit ihr im Einklang zu leben.“

Axel Sikora ist stellvertretender Institutsleiter von Hahn-Schickard in Villingen-Schwenningen.
Patrick Selle erforscht die Signale der Pflanzen und versucht, unsere Umwelt besser zu verstehen.

Aus der Stiftung – Forschung

Innovationen in der Land- und Forstwirtschaft

„ULTRA-SAVE“ ist eines von acht Projekten, die die Baden-Württemberg Stiftung über das Programm Innovative Technologien für Klimaresilienz in der Land- und der Forstwirtschaft fördert. Insgesamt wurden fünf Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Landund Forstwirtschaft sind vom Klimawandel besonders stark betroffen. Es gilt daher, die Widerstandsfähigkeit gegen die damit einhergehenden Veränderungen zu stärken. Erforderlich sind neue Bewirtschaftungstechniken und innovative Technologien wie Bewässerungssysteme, die an Wassermangel angepasst sind, oder die Entwicklung von Drohnen zur Überwachung der Bodenfeuchte. Vor allem die Digitalisierung kann in diesem Bereich bei Entscheidungen unterstützen und Prozesse optimieren. www.bwstiftung.de/klimaresilienz