Wer regiert das Netz?

Die digitale Transformation umfasst alle Lebensbereiche. Digitale Medien beeinflussen unsere Gesellschaft, die Art, wie wir leben, arbeiten und denken, in bisher nie dagewesener Form. Welche Regeln sollten im Netz gelten? Und wer kann sie umsetzen? Jeanette Hofmann, Professorin für Internetpolitik, und Netzaktivist Markus Beckedahl im Gespräch.

Nataly Bleuel
Lesedauer: 5 Minuten

Tiefgreifende historische Veränderungen wie die Digitalisierung versteht man oft erst mit Abstand. Wie sind Sie vor drei Jahrzehnten zum Internet gekommen?

Jeanette Hofmann Mein Arbeitgeber, das Wissenschaftszentrum Berlin, bekam im Jahr 1992 Zugang zum Internet. Damals hat sich von heute auf morgen meine Forschungsperspektive geändert. Drei von uns ließen alles andere stehen und liegen und konzentrierten sich aufs Netz. Gegen erheblichen Widerstand, denn damals war das Internet noch recht unbekannt und hatte den Ruf eines Spielzeugs. Nichts, worauf man eine Forschungskarriere aufbauen könnte. Ich dachte auch nur: Wir müssen mal herausfinden, worum es sich hier handelt.

Markus Beckedahl Ich bin in den Achtzigern mit Computern groß geworden, mein Vater hatte als Ingenieur einen Sinclair ZX81 und dann den ersten XT-PC. Ab Mitte der 1990er-Jahre fing es an, dass man die Mailboxen von Freunden mitbenutzen konnte, um Computerspiele zu kopieren. Spätestens ab 1997 war ich online.

In der gleichen Zeit haben Sie auch begonnen, sich politisch zu engagieren?

MB Mir wurde bewusst, dass die Politik anfing, das Internet zu regulieren. Ohne viel Kompetenz wurden die ersten Überwachungsgesetze beschlossen. Es war eine Goldgräberstimmung für Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste, denn sie hatten technische Möglichkeiten, aber es gab kaum Kontrollen. Mitpolitisiert hat mich im Jahr 1997 der Echelon-Skandal, das war der Vorläufer der Snowden- Enthüllungen von 2013. Damals legten investigative Journalistinnen und Journalisten offen, dass Geheimdienste aus den USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada alles überwachten, was zu überwachen geht: private und geschäftliche Telefongespräche, Faxverbindungen und Internetdaten. 

FREIE INFORMATIONEN
Alles, was die Menschheit an Wissen zusammengetragen hat, ist im World Wide Web jederzeit zugänglich – vorausgesetzt, man lebt in einem Rechtsstaat, in dem Informationen frei fließen können. Wichtige, auch digitale Orte des Bewahrens und Erinnerns sind Museen. Auf der Plattform bawue.museum-digital.de finden sich knapp 47.000 Objekte aus fast 450 baden-württembergischen Sammlungen. Wie etwa dieses Foto des Bezirksmuseums Buchen, das Bauarbeiter aus dem Jahr 1904 zeigt.

Was waren die Konsequenzen?

MB Es gab einen Untersuchungsausschuss im Europaparlament, der seinen Bericht eine Woche nach den Anschlägen vom 11. September 2001 veröffentlichte und die Medienberichte bestätigte. So ging das völlig unter. Und es herrschte weiterhin ein Schlaraffenland für Vorratsdatenspeicherung und Überwachungsgesetze: Was in der analogen Welt niemals möglich gewesen wäre, war im Netz machbar. Der Widerstand war wichtig, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass nicht alles, was technologisch geht, auch rechtlich in einer Demokratie möglich sein sollte.

Viele sagten damals, das Internet sei ein rechtsfreier Raum.

MB Das ist bis heute das Narrativ, und es ist falsch. Das Hauptproblem sind nicht fehlende Überwachungsmöglichkeiten krimineller Aktivitäten oder Gesetze – sondern deren Durchsetzung. Die Polizei hat nicht genug Personal, Zeit, Ausbildung und Technikexpertise.

JH Einen unregulierten Raum im Netz hat es nie gegeben. Es haben sich nur die Regulierungsarten geändert. Ich befasste mich ab Mitte der 1990er-Jahre mit technischer Standardsetzung im Internet. Da ging es um das Protokoll IP v4, mit dem sich Daten im Netz übertragen ließen. Das war nicht nur eine technische, sondern auch eine sehr wichtige politische Frage.

Dr. Jeanette Hofmann ist Professorin für Internetpolitik. Sie forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu den Themen Regulierung des Internets, Global Governance und Digitaler Wandel. Sie war Sachverständige in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestags, Gründungsdirektorin des Alexander von Humboldt- Instituts für Internet und Gesellschaft und hat am UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft mitgewirkt.

Inwiefern?

JH Es ging darum, eine Übertragungstechnik durchzusetzen, die potenziell jedem Menschen auf dem Erdball einen einfachen und freien Zugang zum Netz ermöglicht hätte. Das Internet wurde ursprünglich mit dem IPX-Protokoll dezentral designt, jeder Rechner konnte sich dem Netz anschließen, konnte sich mit anderen Computern verbinden und beliebige Inhalte austauschen. Der Personal Computer stand sozusagen gegen die Großrechner und ihre Zentralisierungsansprüche und Kapitalerfordernisse – den konnte man fast selber bauen und vernetzen und damit auch den globalen Süden erreichen. Das war für uns revolutionär: ein Kommunikationsnetz, das niemanden ausschließt! Diese Euphorie hielt bei mir bis zur Netzneutralitätsdebatte.

Netzneutralität bedeutet, dass im Internet alle Daten als gleichwertig behandelt werden – unabhängig von Absender, Empfängerin oder Inhalt. Einzelne Daten dürfen also nicht bevorzugt werden.

JH Unternehmen begannen, diese Gleichbehandlung aufzugeben und systematisch den Zugang zu Endnutzungsgeräten einzuschränken.

MB Das war in der Zeit zwischen 2010 und 2015, als Plattformen wie Facebook, Google und Amazon Marktmacht akkumulierten und so zu oligarchischen oder monopolistischen
 wurden, die Daten steuern.

JH Das Geld im Netz wurde immer weniger mit Infrastruktur gemacht – sondern mit Inhalten wie werbefinanzierten Suchmaschinen, Plattformen, Streamingdiensten. Deswegen versuchten Provider, die nur den Zugang zum Internet verkauften, sich als Torhüter aufzubauen, indem sie etwa zu den Anbietern der Inhalte sagten: Wenn ihr ruckelfreie Kinofilme zu unseren Endkunden senden wollt, müsst ihr zahlen! So konnten nicht mehr alle Inhalte zu gleichen Bedingungen kursieren. Da wurde uns in unserer Naivität bewusst, dass die Marktkräfte ihre Macht missbrauchen. Eigentlich keine neue Erkenntnis. Aber für uns schien das Internet in seiner Dezentralität Machtkonzentrationen technisch zu widerstehen. Das war einer der großen Irrtümer. Stattdessen passierte das Gegenteil.

Inwiefern?

JH In manchen Ländern des globalen Südens ist die mangelnde Netzneutralität ein großes Problem geworden. In Brasilien zum Beispiel hat sie im Jahr 2018 die Wahl Jair Bolsonaros gefördert, weil Chatinstrumente wie WhatsApp so wichtig wurden und aktuell auch Telegram eine bedeutende Rolle spielt. Denn mittellose Menschen, die sich keinen vertraglichen Zugang zum Internet leisten können, bekommen Zugang nur über kostenlos angebotene Dienste wie Facebook oder Telegram.

Markus Beckedahl ist Journalist, hat das Blog netzpolitik.org gegründet und aufgebaut, dazu die Digitalkonferenz re:publica mitgegründet, die er seit dem Beginn kuratiert. Seit 2010 ist er Mitglied im Medienrat der Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg, von 2010 bis 2013 gehörte er der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestags an.

Warum ist das ein Problem?

MB Weil dadurch für viele Menschen in Teilen Afrikas und Asiens Facebook und WhatsApp das Internet sind. Diese Monopolstellung schränkt die Informationsfreiheit extrem ein.

 

Das heißt, ein einzelnes US-Unternehmen kontrolliert die Kommunikationsfähigkeit der Menschen auf der halben Erdkugel?

JH Das war auch das Problem in Brasilien. Jair Bolsonaro hat seine potenziellen Wählerinnen und Wähler über WhatsApp gezielt mit Falschinformationen bombardiert.

 

Und was hat Facebook davon?

JH Daten. Und die wiederum sichern die Vorherrschaft bei Künstlicher Intelligenz und Werbung. Also Marktmacht. 

Warum gelten dann im digitalen Raum nicht Regeln wie im analogen Leben?

JH Es wurde immer reguliert – aber oft von den Falschen. Die Behauptung, das Netz sei ein rechtsfreier Raum, hat so noch nie gestimmt. Und heute ist die Unterscheidung zwischen Online- und Offline-Welt schon lange nicht mehr sinnvoll. Und schon die Unterscheidung von Netz und Nichtnetz ist idiotisch!

MB Die Vorratsdatenspeicherung ist das beste Beispiel. In der analogen Welt wird nirgends die Information gespeichert, wen wir wo beim Spaziergang treffen und wann wir mit unserer Mutter quatschen. Lange haben die Provider solche Informationen aber im Netz sechs Monate lang gespeichert. Geheimdienste konnten diese Daten beliebig abfragen. Bis das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 dieses Überwachungsgesetz beschnitt, weil es verfassungswidrig war. Die Bundesregierung hat sie trotzdem 2015 mit vier Wochen Speicherung wiedereingeführt. Und jetzt liegt das Gesetz erneut beim Verfassungsgericht.

JH Es wäre ja ein Fortschritt, wenn im Internet die gleichen Regeln gelten würden wie im analogen Leben. Aber je mehr wir digitalisieren, desto bedrohlicher wird es in Hinblick auf die Sammlung und Auswertung von Daten in einem System, das sich selbst beschleunigt. Ich empfinde es als große Mutlosigkeit der Politik, dass sie da keinen Riegel vorschiebt. Was sollte sich am dringendsten ändern?

JH Wir müssen ganz grundsätzlich den Datenschutz neu durchdenken, und zwar im Hinblick auf personenbezogene Daten. Für die Einwilligung zur Auswertung von Daten brauchen wir kollektive Lösungen statt individuelle Einverständniserklärungen. Und wir müssen überlegen, was wir mit den unfassbar vielen Daten, die andauernd generiert werden, eigentlich machen wollen. Wer hat Zugang? Wer kontrolliert sie? Wem gehören sie? Den Usern, den Providern, den Plattformen, den Geheimdiensten, dem Staat?

MB Da bin ich etwas anderer Meinung: Wir müssen den Datenschutz weiterentwickeln, aber nicht komplett neu durchdenken. Oder wie meinst du das?

JH Ich meine, dass es heute nicht mehr um rein personenbezogene Daten geht, denn Daten sind relational geworden. Das heißt, es wird mit Beziehungsprofilen gearbeitet. Es geht nicht darum, ob ich in Hausnummer 32 oder 36 wohne, sondern wann ich mich wo wie und mit wem aufgehalten und was ich mit ihm oder ihr ausgetauscht habe.

MB In dem Punkt hast du recht. Zudem müsste man beispielsweise von Google oder Facebook erfahren können, wie die meine Daten interpretieren und verwenden. Da bräuchte man Transparenz. Und wir müssten die rechtliche Durchsetzung in der Datenschutzgrundverordnung überarbeiten. Es ist nicht zeitgemäß, dass wir von Deutschland nach Irland oder Luxemburg ziehen müssen, wenn wir die Internetkonzerne verklagen wollen .

SCHNELLER ALS DAS RECHT
Einer der leistungsfähigsten Supercomputer der Welt steht in Baden-Württemberg. „Hawk“ ging im Februar 2020 am Höchstleistungsrechenzentrum der Universität Stuttgart ans Netz. Rund 26 Petaflops schafft der schwäbische Falke – oder genauer: 25.950.000.000.000.000 Rechenoperationen pro Sekunde. Damit ist „Hawk“ noch einmal deutlich schneller als sein Vorgänger „Hazel Hen“ (im Bild), der es auf knapp acht Petaflops brachte. Genutzt wird die wachsende Rechenpower etwa, um Prognosen zum Verlauf von Epidemien zu erstellen. Weit weniger schnell sind Berlin und Brüssel dabei, den richtigen gesetzlichen Rahmen für die Folgen der Digitalisierung unseres Lebens zu setzen.

Warum wird die Rechtsdurchsetzung nicht besser gebündelt? Verbessert die neue EU-Gesetzgebung die Lage? Und was erwartet uns im Web 3.0, Mark Zuckerbergs Metaverse? Lesen Sie hier das große Interview weiter.

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