Mit der gemusterten Tapete lief noch alles glatt. Auch die wasserabweisende Glasfasertapete mit dem eleganten Karorelief machte kein Problem, wenn man darauf achtete, sich keine dieser mikroskopisch kleinen Glassplitter einzuziehen. Die jucken sonst noch tagelang. Aber diese Raufaser! Leona, Jan, Leander und Klara sind sich einig, die macht echt Zicken. Die reißt so leicht, nachdem man sie mit Kleister eingepinselt hat. Und mal ehrlich, wer klebt heute überhaupt noch Raufasertapeten? Es ist Freitagnachmittag im Ausbildungszentrum des Malerunternehmens Heinrich Schmid in Reutlingen. Die Neuntklässler wuseln aufgekratzt zwischen den bunt tapezierten Musterwänden herum. Alle tragen weiße Hosen und Sweatshirts mit dem Logo des Unternehmens. Tapetenmesser und Kleisterbürste liegen auf dem Tapeziertisch. Am Ende der Ausbildungswoche lässt die Konzentration schon mal nach. Dabei steht noch einiges auf dem Programm. Die Tapeten müssen wieder von der Wand gespachtelt werden. Alles im Ausbildungszentrum muss am Ende wieder so aufgeräumt sein, wie sie es am Morgen vorgefunden haben, damit demnächst auch wieder die betriebseigenen Lehrlinge hier Tapezieren üben können. Vier Tage mit Kleister und Spachtel haben die Schülerinnen und Schüler schon hinter sich. Insgesamt verbringen sie jedes Jahr bis zum Abitur neun Wochen auf Baustellen und im Ausbildungszentrum des Malerunternehmens. Wenn andere Ferien machen oder ihre Zeit bei Instagram oder an der Playstation verbringen, lernen sie alles über das Grundieren und Lackieren. Für die Schülerinnen und Schüler des Firstwald- Gymnasiums und des Blaulach-Gymnasiums im Landkreis Tübingen ist die Arbeit am Tapeziertisch mehr als nur ein Tapetenwechsel vom grauen Schulalltag oder eines der vielen Schulpraktika. Es ist eine Ausbildung. Wenn sie dabeibleiben, können sie ein halbes Jahr nach ihrem Abitur auch einen Gesellenbrief als Malerin oder Lackierer in den Händen halten. Insgesamt sind es 60 Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg, für die Lackieren erst mal über Studieren geht und die am Ende Ausbildung und Abi in der Tasche haben können. Ist das nicht ganz schön stressig neben der Schule? Nein, findet Leander. In den Ferien hätte er sonst auch nie viel für die Schule getan, jetzt hätte er halt weniger Zeit, um am Computer zu zocken. Jan sagt: „Immerhin lernt man hier was, das man später bei der ersten eigenen Wohnung sofort brauchen kann.“ Und ein kleines Ausbildungsentgelt gibt es ja auch noch. „Dafür müsste ich sonst jobben gehen.“
Carl-Heiner Schmid sitzt im Pausenraum zwischen den Lehrlingen vom Gymnasium und freut sich: „Sind das nicht tolle junge Leute?“ Der 81-jährige Unternehmer ist der Chef des größten deutschen Handwerksund Baubetriebs, Heinrich Schmid in Reutlingen – mit mehr als 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an über 170 Standorten. Den Gesellenbrief mit dem Abitur zu verbinden, war seine Idee. Denn er hat es in seiner Jugend so ähnlich auf einem Internat erlebt. Zwar glaubt Schmid nicht, mit seinem Programm für aufgeweckte Gymnasiastinnen und Gymnasiasten eine finale Lösung für den Fachkräftemangel in Deutschland gefunden zu haben. Aber vielleicht hat am Ende der eine oder die andere Interesse daran, in seinem Unternehmen später eine Führungsposition zu übernehmen.