Interview
Ängste verstehen: Wie aus Sorgen Chancen werden
Die deutsche Geschichte ist auch eine Geschichte kollektiver Ängste. Was können wir aus ihr für die Krisen der Zukunft lernen? Der Historiker Frank Biess hat deutsche Angstzyklen seit Gründung der Bundesrepublik untersucht. Er hinterfragt den Begriff der German Angst – und erklärt, welche Ängste wir jetzt dringend benötigen.
Herr Biess, der Begriff der German Angst hat eine lange Tradition. Wann ist er in Mode gekommen?
FRANK BIESS Mit Hilfe von Recherche-Tools kann man sehr gut sehen, wann der Begriff erstmals besonders häufig in Diskussionen auftauchte. Der Graph schnellt hoch in einem bestimmten Moment: Ende der 80er- und insbesondere Anfang der 90er-Jahre. Es ist die Zeit des ersten Golfkriegs. In Deutschland skandieren die Menschen „Kein Krieg für Öl“, ich erinnere mich noch gut daran, damals war ich Student in Tübingen. Die German Angst ist zu dieser Zeit ein politischer Kampfbegriff, den Gegner der Friedensbewegung nutzen, um sie zu diskreditieren.
Inwiefern? Was genau bedeutet German Angst?
FB Die Kritiker der Friedensbewegung wünschten sich mehr Beteiligung Deutschlands im Golfkrieg, nicht nur eine finanzielle und logistische. Das Schlagwort der German Angst sollte suggerieren, dass es eine überzeitliche, kollektive Neurose der Deutschen gebe, die eine solche Beteiligung verhindere, eine typische Zögerlichkeit und Ängstlichkeit. Es unterstellt, dass die Menschen in Deutschland an einer Art Angststörung leiden. Die German Angst wurde nicht nur gegen die Friedensbewegung ins Feld geführt, sondern vor allem auch gegen die Umweltbewegung.
Inwieweit war und ist diese Diagnose der Deutschen berechtigt?
FB Das Konzept der German Angst erscheint mir als Historiker zu einfach. Ich spreche von sich verändernden kollektiven Ängsten und Angstzyklen. Sie nahmen in der traumatischen Erfahrung von Krieg und NS-Zeit ihren Ursprung und haben in der Tat die Bundesrepublik geprägt. Sie waren aber komplexer, als es das Klischee der German Angst erscheinen lässt. Und: Auch wenn sich viele Ängste nicht bewahrheiteten, heißt das nicht, dass man sie als Hirngespinste abtun sollte.
Welche Ängste waren das konkret?
FB Ich habe das für den Zeitraum seit der Gründung der Bundesrepublik bis heute erforscht, mit Blick auf die westdeutschen Bundesländer. Unmittelbar nach dem Krieg war die Vergeltungsangst vorherrschend. Man fürchtete sich davor, dass die Alliierten nun das mit den Deutschen machen würden, was die Deutschen ihren Opfern angetan hatten. In der Rückschau wird die amerikanische Besatzung vor allem als Beginn der Demokratisierung gesehen: Die Amerikaner haben uns die Demokratie gebracht. Wenn Sie aber die zeitgenössischen Reaktionen lesen, zeigt sich auch ein anderes Bild.
Nämlich welches?
FB Da wurden die Besatzer als massive Bedrohung wahrgenommen. Teilweise war dies antisemitisch grundiert, weil es die Vorstellung gab, dass die Alliierten in der Hand „der Juden“ sind und diese sich somit an den Deutschen rächen könnten. Das war eine Angst, die sich durch die historische Entwicklung entkräftete. Ende der 40er-Jahre war den meisten dann klar, dass es so nicht kommen würde und man doch ganz gut mit der Besatzung fährt. Was aber in den 50er-Jahren und darüber hinaus bestehen blieb, war die Angst vor Wiederbewaffnung, Atomkrieg und einer Konfrontation zwischen Ost und West. Die Angst vor einem neuen Krieg ist ein weiterer Angstzyklus, der uns in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder begegnet – bis heute.
Die R+V-Versicherung untersucht und dokumentiert regelmäßig die größten Ängste der Deutschen. 2023 landeten Sorgen um Lebensstandard und Existenzgrundlage auf den vorderen Plätzen. Die Angst vor Überforderung des Staats durch Geflüchtete stieg im Vergleich zum Vorjahr deutlich an.
Sie schreiben in Ihrem Buch, Ängste böten auch Anlass zur Hoffnung. Vor dem Hintergrund von Pandemie, Klimawandel und Kriegen: Können Ängste unsere Resilienz stärken?
FB Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Angst für mögliche Gefahren sensibilisiert und auch eine positive Funktion haben kann. Ähnlich präsent wie die Angst vor einem neuen großen Krieg war in der Bundesrepublik die Befürchtung, das Land könnte wieder zu einem autoritären Staat umgebaut werden. Konkret zeigt sich das am Beispiel der Diskussion über die Notstandsgesetze Ende der 60er-Jahre, bei der es um die Befugnisse des Staates in Ausnahmesituationen ging. Ursprünglich geplant waren weitreichende Exekutivrechte, die, angelehnt an die Weimarer Republik, Grundrechte außer Kraft setzen sollten.
Hier wurden demnach angsterfüllte Erinnerungen wach. Welche Kraft entwickelten sie?
FB Der breite Protest in der Bevölkerung sorgte schließlich dafür, dass die Gesetze milder ausfielen. Ängste können also dazu führen, dass man auf Dinge schneller reagiert. Ein weiteres historisches Beispiel ist die ebenfalls sehr angstbesetzte Debatte um das Waldsterben in den 80er- Jahren. Damals bewirkten die massiven Proteste der Umweltbewegung, dass die Regierung von Helmut Kohl Schwefelfilter für Kraftwerke vorschrieb, was die Luftqualität deutlich verbesserte.
Die R+V-Versicherung versucht jedes Jahr, die Ängste der Deutschen im „Angstindex“ in Zahlen zu fassen. Aktuell sind finanzielle Sorgen auf den vorderen Plätzen: steigende Lebenshaltungskosten und Mietpreise. Auf Platz vier folgt die Angst vor Überforderung des Staats durch Geflüchtete, erst auf Platz zehn der Klimawandel und auf Platz 15 die Kriegsangst. Ist den Deutschen heute ihr Geldbeutel am nächsten?
FB Das Thema Geld ist nun mal mit der Lebensrealität der meisten Menschen am engsten verbunden. Die gestiegenen Preise bemerkt jeder beim Einkaufen. Wenn man sich die Ergebnisse der vergangenen Jahre anschaut, wird aber deutlich, dass Globalisierungsängste die größte Rolle spielen: Finanzkrise 2007, Eurokrise 2010, das Flüchtlingsthema, später der islamistische Terrorismus, die Corona-Pandemie und jetzt die Kriege in der Ukraine und Nahost – vieles sind Phänomene, die mit der größeren Vernetztheit der Welt entstanden sind. Und auch die Sorge um den eigenen Geldbeutel hängt mit Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg und der deshalb gestiegenen Inflation zusammen. Diese Sorgen sind eher transnational und nicht mehr spezifisch deutsch. Wenn Joe Biden die Wahl verliert, dann sicherlich auch wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten in den USA.
Warum sind insbesondere diese Globalisierungssorgen so groß?
FB Viele dieser Ängste sind so ausgeprägt, weil sie mit einer Hilflosigkeit verbunden sind. Den Menschen ist nicht klar, wie diese Megaprobleme auf nationaler Ebene gelöst werden können. In einem Land wie Deutschland, in dem die Staatszentriertheit und die Erwartung, dass der Staat alle Probleme löst, sehr verbreitet sind, führt das zu einem Verlust des Vertrauens in die Politik. Parteien wie die AfD versuchen davon zu profitieren, indem sie Minderheiten und Flüchtlinge zum Sündenbock für die Krisen machen. Derartige gruppenbezogene Ängste schlagen schnell um in Hass und rassistische Gewalt. Lösungen haben die Rechtsextremen nicht zu bieten.
Auf Platz 8 der „größten Ängste“ 2023 findet sich ein Neueinsteiger: die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft. In einer Sonderbefragung der R+V im Februar 2024 stieg dieser Wert sogar auf 66 Prozent.
Was können wir aus der Vergangenheit für einen besseren Umgang mit Krisen und Ängsten lernen?
FB Erinnerung hat auch immer eine vorwärtsweisende Funktion. In der frühen Bundesrepublik sorgte die Erinnerung an das „Dritte Reich“ für eine starke Angst vor der Zukunft, die noch in der späteren Friedensbewegung und der Warnung vor einem „nuklearen Holocaust“ nachwirkte. Umgekehrt gilt auch: Wenn die Katastrophe verhindert wird, können wir daraus Vertrauen in die eigene Problemlösungskapazität schöpfen, das kann man auch Resilienz nennen. Beispiele dafür sind die Euro- und die Corona-Krise. Vielleicht lässt sich aus der Vergangenheit auch lernen, dass Ängste vor einem abstrakten Gegenstand nichts Schlechtes sein müssen, zum Beispiel vor dem Klimawandel oder einem eskalierenden Krieg oder auch der Fragilität unseres Rechtsstaats. Die Kultivierung von demokratischen Ängsten kann ein Mittel gegen Rechtsextremismus sein, weil sie unser Bewusstsein für das schärft, was wir verlieren können: die Demokratie.
Lässt sich das prinzipiell auf Krisenerscheinungen übertragen?
FB Ja, auf viele schon. Wenn man die mögliche Katastrophe sieht, kann das helfen, sie zu verhindern. Deshalb ist es, um an den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen, gefährlich und überheblich, kollektive Ängste als eine German Angst und quasi neurotische Störung abzutun. Eine Geschichte der Bundesrepublik, die diese nur als Erfolgsgeschichte erzählt, zeugt von einer sehr selbstzufriedenen Sichtweise. Das wird auch den damaligen Zeitgenossen nicht gerecht, die ja meist gute Gründe für ihre Ängste hatten. Wir Historikerinnen und Historiker haben heute den Vorteil der rückblickenden Perspektive, aber die Zeitgenossen konnten die Entwicklungen ja nicht vorhersehen – ich denke, ihnen gegenüber ist mehr Demut gefragt.
Sorgen wegen autoritärer Herrscher und Krieg finden sich auf den Plätzen 14 und 15 – mit immer noch hohen Werten. Die Angst, dass es in Deutschland durch Migration zu Spannungen kommt, stieg im Vergleich zum Vorjahr deutlich.
Frank Biess
Frank Biess, im Jahr 1966 in Brackenheim im Landkreis Heilbronn geboren, lehrt an der University of California in San Diego Europäische Geschichte. Er ist Autor von Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik (2019).
Aus der Stiftung – Gesellschaft & Kultur
Vielfalt gefällt!
Die Baden-Württemberg Stiftung initiiert seit 2012 Programme, die die Chancen sozialer und kultureller Vielfalt in den Fokus rücken. Ziel des aktuellen Programms Vielfalt gefällt! Orte der Toleranz ist es, bestehende Abgrenzungen durch Begegnungen, Dialoge und gemeinsame Aktivitäten von Menschen mit unterschiedlichen Herkünften, Zugehörigkeiten und Identitäten zu überwinden. Dadurch sollen soziale Distanz, Ablehnungshaltungen und Vorurteile abgebaut werden. Modellprojekte wenden sich insbesondere an Gruppen, zwischen denen verfestigte Abgrenzungen bestehen oder bei denen fremdenfeindliche, ethnozentrische, nationalistische oder rassistische Überzeugungen ausgeprägt sind. www.bwstiftung.de/vielfalt