Innovativ in die Zukunft
Wohlstand sichern

Die Wirtschaft im Südwesten zeigt Krisensymptome. Aber die Voraussetzungen für Neues sind nicht schlecht. Und es gibt Hoffnung auf alte Stärke mit neuen Technologien.

Benno Stieber
Lesedauer: 4 Minuten

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Der schicke Sneaker schwebt einfach so im Raum. Das dreidimensionale Modell materialisiert sich plastisch über dem aufgeklappten Laptop, als sei es aus dessen Bildschirm ausgestiegen. Der Kunde kann das virtuelle Objekt seiner Begierde mit Gesten drehen und von allen Seiten betrachten – ohne 3D­Brille. Der Maverick AI ist der erste Computer, der ohne Tastatur und Touchscreen auskommt. Ein ausgeklügeltes System aus Kameras und Sensoren ermöglicht Gestensteuerung und 3D­Projektion im freien Raum. Das ist kein Gimmick aus einem Science­Fiction­Film, kein wolkiges Versprechen aus dem Silicon Valley. Der Maverick AI kommt aus Heidelberg und soll Ende des Jahres 2024 zum ersten Mal in der Praxis getestet werden. Ameria heißt das Hightech­Unternehmen, das den KI­ Laptop vorgestellt hat. Gerade einmal 64 Mitarbeiter tüfteln bei Ameria an berührungsfreien Steuerungen – eine zukunftsweisende Technologie, die den Computermarkt revolutionieren könnte.

Hoffnung in der Krise

Das Start­up aus Heidelberg macht Hoffnung, dass Deutschland und der Südwesten künftig auch bei der weltweiten Digitalisierung maßgeblich zwischen Alphabet, TikTok und Microsoft mitmischen könnten. Eine gute Nachricht zur rechten Zeit. Denn das früher so raumgreifende Selbstbewusstsein des baden-württembergischen Mittelstands scheint in letzter Zeit etwas angeknackst angesichts stagnierenden Wachstums und schwer kalkulierbarer ökonomischer Umbrüche im Schatten grundstürzender globaler Krisen. Nicht nur der Ministerpräsident warnt vor den erbarmungslosen Gesetzen des Marktes: „Wer nicht mitkocht, steht bald auf der Speisekarte“, sagt Winfried Kretschmann.

Es gibt genug Gründe zur Sorge. Da geraten Preiskalkulationen von Unternehmen durch die Inflation unter Druck, die wachsende Bürokratie lässt vor allem Kleinunternehmen weniger Zeit für ihre eigentliche Arbeit. Die europäische Wende hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft macht Investitionen – etwa in Energiespeicher und Steuerungstechnik – notwendig, die aber von vielen Unsicherheiten begleitet werden. Mancher Unternehmer kapituliert vor diesen Herausforderungen. Untersuchungen des Leibniz­Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim zeigen, dass im Jahr 2022 die Zahl der Unternehmensschließungen die der Gründungen überstieg. Die Zahl der Neugründungen, die seit 2015 recht konstant gewesen war, sank 2022 deutschlandweit um 12 Prozent, in Baden­Württemberg sogar um 14 Prozent.

Laut dem Statistischen Landesamt ist das baden-württembergische Bruttoinlandsprodukt 2023 preisbereinigt um 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Damit entwickelte sich die Wirtschaft des Landes leicht unterhalb des bundesweiten Niveaus (– 0,3 Prozent).

Schaffen die Autobauer die Wende?

Es sind vor allem drei Faktoren, die Unternehmern den Mut für die Zukunft nehmen, sagt Hanna Hottenrott, Leiterin des Forschungsbereichs Innovationsökonomik beim ZEW. Erstens der unsichere Zeitplan für den Strukturwandel in bestimmten Branchen: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um in neue Technologien wie digitale Fertigung oder 3D­Druck zu investieren? Zweitens globale politische Unsicherheiten: Lieferketten, die zuerst durch die Pandemie gestört wurden und jetzt durch den Terror im Roten Meer beeinträchtigt sind. Auch das zunehmend belastete Verhältnis zum Handelspartner China bereitet Kopfzerbrechen. Hinzu kommen drittens die Unwägbarkeiten durch die Energiewende. Wann werden Nord­Süd­Stromtrassen die Versorgung des Südens mit Windstrom sicherstellen? Wie schnell kann eine Wasserstoffinfrastruktur aufgebaut werden? Und, davon abhängig: Wie entwickeln sich Energiepreise? All das trifft den Industriestandort Baden­Württemberg mit seinem ex­portorientierten Mittelstand härter als andere Regionen. Oder wie Hottenrott sagt: „Wo es viel gibt, da ist der Strukturwandel auch stärker zu spüren.“

Ein echtes Klumpenrisiko dabei: Schafft die baden­württembergische Automobilindustrie die Wende hin zum E­Auto? Zu lange hat man mit allen – auch verbotenen – Mitteln am Verbrennungsmotor festgehalten, der hier im Südwesten erfunden und zur Perfektion gebracht wurde. Auch jetzt ist die Strategie noch unentschieden. Im Februar gab Mercedes­ Benz bekannt, man plane vorerst weiter mit dem Verbrennungsmotor – „bei Bedarf bis in die 2030er­Jahre hinein“.

217.000 Menschen arbeiten im Land in der Automobilindustrie. Nach Schätzungen hängen noch einmal so viele Arbeitsplätze von ihr ab. Tiefe Einbrüche würden aber auch auf Bereiche der Gesellschaft durchschlagen, die man nicht sofort mit Autos in Verbindung bringen würde: die Filderklinik bei Stuttgart zum Beispiel. Sie wird zu wesentlichen Teilen von der Mahle­Stiftung finanziert, die ihr Geld aus den Gewinnen des Mahle­Konzerns erhält. Der Automobilzulieferer aus Stuttgart baut seit 10 Jahren das Herzstück für Verbrennungsmotoren, den Kolben. Oder das Stuttgarter Robert­Bosch­Krankenhaus, mit mehr als 1.000 Betten eine der größten Kliniken der Stadt. Sie trägt sich zwar selbst, aber die Robert­Bosch­Stiftung, der rund 92 Prozent des Autozulieferers Bosch gehören, finanziert neue Investitionen des Krankenhauses jährlich in Millionen­höhe. Auch eine Stadt wie Friedrichs­hafen ist seit Jahrzehnten daran gewöhnt, mit den zusätzlichen Millionen der Zeppelin­Stiftung zu planen. Der Stiftung gehört die ZF Friedrichshafen AG, einer der weltweit größten Automobilzulieferer. Friedrichshafen finanziert damit zum Beispiel seine städtische Bibliothek und seine Kitas. Wenn bei ZF, wie in jüngster Zeit, Arbeitsplätze abgebaut und Gewinnerwartungen zusammengestrichen werden, sind auch die Sorgen der Stadt am Bodensee groß.

Wie die Automobilindustrie und mit ihr das Land den Strukturwandel verkraftet? Der Ausgang ist offen. Eine Studie der Boston Consulting Group zusammen mit der Agora Verkehrswende zeichnet ein eher optimistisches Bild. Ein gut gemanagter Umschwung zur elektrischen Mobilität könnte Deutschland sogar ein leichtes Plus an Arbeitsplätzen bescheren, auch wenn das zum großen Teil andere Arbeitsplätze sein werden – und aus einem Mechatroniker nicht ohne Weiteres ein Softwareentwickler wird.

Die Forschungen von Werner und Antonovsky führten zu einem Paradigmenwechsel: Nun stand nicht mehr allein die Suche nach jenen Faktoren im Fokus, die eine Krankheit verursachen. Fortan suchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch nach Einflüssen, die dazu führen, dass jemand widerstandsfähiger, resilienter ist. Dass jemand schwierige Lebenssituationen, Krisen oder Katastrophen ohne bleibende psychische Schäden übersteht. Salutogenese heißt dieses Prinzip, abgeleitet vom lateinischen „salus“ (Gesundheit, Wohlbefinden) und vom altgriechischen „genesis“ (Geburt, Entstehung); es ist das Gegenteil von Pathogenese.

Heute gibt es ganze Forschungseinrichtungen, die die Resilienz untersuchen – wie das LIR in Mainz. Und so ist mittlerweile einiges darüber bekannt, wie Menschen Widerstandskraft aufbauen. Isabella Helmreich sagt dazu: „Es gibt drei verschiedene Wege, wie uns die Resilienz durch die Widrigkeiten des Alltags helfen kann: die Resistenz, die Regeneration und die Rekonfiguration.“

Alte Tugenden und neuer Mut

Historisch sind die Menschen im Südwesten wirtschaftlichen Umbrüchen immer mit neuen Ideen und Innovationseifer begegnet. Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich aus kleinen Handwerkern und Uhrmachern in den rohstoff­ und wasserarmen Landstrichen des Schwarzwalds und Schwabens allmählich das erfolgreiche mittelständisch geprägte Unternehmensnetzwerk aus Maschinenbauern und ingenieurgetriebenen Zulieferern, das wir heute kennen. In der Weltwirtschaftskrise der 1920 er­Jahre erfand man hier die Kurzarbeit, weil sich viele Arbeiter noch mit einer kleinen Landwirtschaft über Wasser halten konnten. Und als der Automobilindustrie in den 90 er­Jahren schon einmal die Konkurrenz aus Fernost den Rang abzulaufen drohte, lernte man rasch von Japanern, seine Betriebsabläufe effizienter zu gestalten.

Die Voraussetzungen, dem vielgestaltigen Strukturwandel in Baden­Württemberg auch diesmal erfolgreich zu begegnen, seien gar nicht schlecht, sagt Hanna Hottenrott. So sei die Wirtschaftskraft für ein solches Flächenland vergleichsweise gut verteilt. Zwar fehlten auch im Südwesten dramatisch viele Fachkräfte. Aber dass Bildungseinrichtungen hier traditionell in enger Kooperation mit den Unternehmen stehen, sei ein echtes Pfund. Ein gutes Beispiel: die dualen Hochschulen. Eine baden­württembergische Erfindung, die es Studierenden ermöglicht, eng verflochten mit der beruflichen Praxis einen Hochschulabschluss zu machen.

Die enge Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Forschung an den exzellenten Wissenschaftsstandorten des Landes hat die Gründerszene in Heidelberg, Karlsruhe, Tübingen und Stuttgart wachsen lassen. Auch wenn fast die Hälfte einer jeden Generation neu gegründeter Unternehmen nach Berechnungen des ZEW die ersten zehn Jahre nicht überlebt, sei das kein Hinweis auf schlechte Bedingungen, betont Hottenrott, sondern der natürliche Lauf der Dinge.

 

Ein Ufo soll den Weg weisen

Ein Campus für Studierende, Gründer und etablierte Unternehmen ganz neuer Art entsteht derzeit in Heilbronn – zum großen Teil aus privaten Mitteln. Dieter Schwarz, 84, Gründer der Discounter Lidl und Kaufland, denkt groß. Auf 23 Hektar lässt er einen Innovationspark für künstliche Intelligenz errichten, rund wie ein gelandetes Ufo. Bis 2027 sollen hier unter anderem Forschungslabore, ein Rechenzentrum und ein Start­up­Center mit Gemeinschaftsarbeitsräumen zur Anwendung künstlicher Intelligenz entstehen. Neben dem nicht öffentlich bezifferten Investment der Dieter Schwarz Stiftung beteiligt sich auch das Land Baden­Württemberg mit 50 Millionen am Innovationscampus. Dazu kommt eine Kooperation mit der Technischen Universität München, die in Heilbronn eine Dependance gegründet hat. Auch die Zürcher ETH und andere Eliteuniversitäten sollen künftig in Heilbronn vertreten sein.

Besonders stolz sind die Initiatoren darauf, dass sie eine der größten Hoffnungen der heimischen Digitalwirtschaft an Bord geholt haben. Das Heidelberger Unternehmen Aleph Alpha – neben Chat GPT eine der ersten Adressen weltweit für die Entwicklung künstlicher Intelligenz – wird auf dem KI­Campus in Heilbronn einen Außenstandort beziehen. Eine Win­win­Situation: Studenten und Start­ups auf dem Campus kommen früh mit einem weltweit renommierten Entwickler wie Aleph Alpha in Kontakt und das Unternehmen kann dort seine Aktivitäten gemeinsam mit externen Spitzenforscherinnen und ­forschern vorantreiben. Auch Konzerne wie Porsche oder Würth haben angekündigt, auf dem Campus präsent zu sein. ZEW­Expertin Hottenrott sagt: „Noch ist es zu früh zu sagen, ob Baden­Württemberg mit dem Campus zum international herausragenden KI­Standort wird. Aber es ist ein ambitionierter und wegweisender Aufschlag.“

Hightech und Hüftgelenke: Wie gut ist die Medizintechnik in Baden-Württemberg für die Zukunft aufgestellt? Und: Kann das Land zum weltweiten Vorreiter in Sachen Wasserstoffwirtschaft werden? Lesen Sie den zweiten Teil des großen Essays im Magazin.

 

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