Tullas Rhein-Vision
An den Höfen entlang des Stroms machen sich Herzöge und Fürsten im 18. Jahrhundert Gedanken, wie man den räuberischen Rhein in seine Schranken verweisen könnte. Bislang hatten es die Anrainer mit lokaler Schadensbegrenzung versucht, mal hier ein neuer Deich, mal dort ein künstlich angelegter Graben. Manchmal hilft es, häufig genug aber ist die Macht des Wassers einfach zu gewaltig.
Was es braucht, sagen die Mächtigen, ist eine große Maßnahme! Gesucht wird jemand, der den Rhein zu zähmen weiß. Auftritt Johann Gottfried Tulla, geboren 1770 in Karlsruhe. Als Ingenieur, der gedanklich und technisch seiner Zeit voraus ist, nimmt er die Herausforderung an, den Rhein zu begradigen. Ihn also in ein neues, fixes, weniger verschlungenes Bett zu verlegen. Als „Bändiger des wilden Rheins“ bezeichnet die Geschichtsschreibung Tulla. Ist dieser Ruf berechtigt? Ein Anruf bei Nicole Zerrath, Historikerin und Co-Autorin einer Tulla-Biografie. Im Riedmuseum in ihrer Heimatstadt Rastatt, am Rhein gelegen, gibt Zerrath Führungen zum Leben und Wirken Tullas. Der Höhepunkt jeder Tour: die Flutung eines Rheinmodells. Damit zeigt die Historikerin, welche Auswirkungen ein Hochwasser vor und nach Tulla hatte. Vereinfacht zusammengefasst: davor Chaos, danach Kontrolle. Tulla, der Rheinbändiger – betrachtet man das Modell, ist das nicht übertrieben. Wobei es zur Wahrheit dazugehört, dass die Hochwasser nicht verschwinden, sondern sich rheinabwärts verlagern – so lange, bis auch dort Maßnahmen ergriffen werden. Ein Umstand, der Tulla zum Beispiel im damals zu Preußen gehörenden Köln Ärger einbringt.
Was war dieser Ingenieur aus Karlsruhe für ein Typ? Nicole Zerrath hat sich im Generallandesarchiv Karlsruhe durch unzählige Akten und Briefwechsel gearbeitet, „eine ausgezeichnete Quellenlage“, sagt die Historikerin. Ihr Eindruck: „Tulla hat schon alle seine Interessen auf dieses eine Projekt gelegt.“ Als sich sein gesundheitlicher Zustand dramatisch verschlechterte, soll er, am Ende seines Lebens, voller Wehmut gesagt haben: „Heute Nacht habe ich das Gefühl, ich muss dem Rhein für immer meinen Rücken zukehren.“
Tulla und der Rhein – das ist eine echte Hassliebe. Schon als Kind bekommt er mit, wie das ungebremste Hochwasser immer wieder Dörfer westlich von Karlsruhe wegspült. Im Gymnasium zeigt er eine ungewöhnliche Begabung für Mathematik, besonders gut ist Tulla darin, Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Seine Lehrer berichten dem Markgrafen von Tullas Talent. „Dass man bei Hofe gut über ihn sprach, hat Tulla einen Kick gegeben“, sagt Nicole Zerrath. „Er wollte seine Begabung dafür nutzen, mit den Möglichkeiten der jungen Wissenschaft den Menschen am Rhein zu helfen.“ Tulla entwickelt die Vision des begradigten Rheins: keine Dörfer mehr, die einfach verschwinden, keine verschlammten Gebiete, in denen sich nach Abfluss des Hochwassers tödliche Krankheiten wie Sumpffieber oder Malaria verbreiten. Der junge Ingenieur betrachtet sein Vorhaben als zivilisatorisches Projekt.
Dass seine Idee, dem Rhein ein festes Bett zu geben, prinzipiell funktioniert, hatte Tulla bereits bei Begradigungen von kleineren Flüssen wie der Dreisam gezeigt. Und der Ingenieur profitiert vom politischen Zeitgeist: In der Epoche der Aufklärung sind die Herrschenden der Wissenschaft gegenüber positiv eingestellt. Zudem ist sein Auftraggeber, das Großherzogtum Baden, gerade erst zum souveränen Staat aufgestiegen, unterstützt von Napoléon Bonaparte, der ein starkes und den Franzosen zugewandtes Baden als nützlichen Pufferstaat gegen die Preußen betrachtet. Frankreich und Baden vereinbaren, eine neue Grenzlinie festzulegen, „diese wurde als Talweg des Rheins beschrieben“, erklärt Nicole Zerrath – eine Festlegung, die zeigt, wie bedeutsam Wasserwege für die Geopolitik sind. Eine Grenze darf jedoch nicht mäandern – weshalb Tullas Idee, dem Rhein ein fixes Bett zu geben, eine politische Dimension erhält. Ein Umstand, der es dem Ingenieur einfacher macht, Geld und Männer für das Projekt zu erhalten. Und von beidem braucht er reichlich, als er im Jahr 1812 mit der Umsetzung beginnt, nachdem er dem Großherzog seine Idee vorgestellt hatte.