Reportage
Über Wasser fliegen

In einem außergewöhnlichen Schulprojekt experimentieren Jugendliche, gefördert von der Baden-Württemberg Stiftung, mit zum Teil selbst gebauten Wassersportgeräten. Beim Hydrofoiling fliegen sie dank Unterwasserflügel auf einem Surfbrett über den Neckar. Physik und Technik fernab des Klassenzimmers, inmitten der Elemente.

Isabel Stettin
Lesedauer: 4,5 Minuten

Wasserort Kirchentellinsfurt
D

Die Wasseroberfläche des Neckars kräuselt sich im Wind, glitzert in der Nachmittagssonne. Rund um den Motor-Yacht-Club Esslingen tummeln sich Boote und Wasserskifahrer, ein vertrautes Bild. Doch etwas ist heute anders. Neugierig schauen die Menschen vom Ufer auf den Fluss – und staunen: Ein Surfer schwebt übers Wasser, mehrere Handbreit hebt sein Board ab in die Luft.

Die Knie leicht gebeugt steht Moritz Schneider fest auf dem Brett. Der 15-jährige Schüler balanciert sein Gewicht aus, geht mit den Bewegungen mit, lässt die Wellen unter sich abfedern, gleitet hinweg über den Fluss. Sein Blick ist nach vorn gerichtet. In seinen Händen hält Moritz den Griff einer Hantel, befestigt an einer 18 Meter langen Leine. Sie verbindet ihn mit dem Boot, das ihn hinter sich herzieht. „Sehr gut, Moritz! Bleib genau so stehen“, ruft Oliver Breuer, Lehrer für Naturwissenschaft und Technik, vom Steuer aus seinem Schüler zu und erklärt: „Unsere Geschwindigkeit ist mit entscheidend.“ Wellen schwappen gegen die „Zugmaschine“, die mit dröhnendem Motor und 20 Stundenkilometern durch das Wasser pflügt. Fährt das Boot zu schnell, würde das Brett mit Moritz darauf zu stark schwanken. Dann hätte er kaum eine Chance, sich zu halten. Fährt es zu langsam, bekommt das Board nicht genügend Stabilisierung und Auftrieb, um sich aus dem Wasser nach oben zu schieben.

„Es fühlt sich an, als würde ich über das Wasser schweben“, sagt Moritz später noch atemlos. Sein Neoprenanzug klebt an ihm, das nasse Haar fällt in die Stirn. Was wirkt wie ein entspannter Tag am Wasser, ist ein Experiment in Physik und Technik. Neben Moritz ist heute sein Klassenkamerad Maximilian Rein, auch 15, mit an Bord. Angeleitet von ihrem Lehrer Oliver Breuer haben die beiden mit vier weiteren Mitschülern an der Graf-Eberhard-Schule in Kirchentellinsfurt zu Hydrofoiling geforscht: einer besonderen Art des Surfens, die gerade zum Trendsport wird und für die man nur wenig Wind und kaum Wellen braucht.

Maximilian Rein (Mitte links) und Moritz Schneider (Mitte rechts) testen den Unterschied zwischen dem selbst gebauten und einem professionellen Foil. Außer den beiden sind auch Colin Baughen, Vincent Rättig, Malte Zeimer und Ben Beckert Mitglieder sowohl der mikromakro-
mint-Projekt-AG als auch des Technikteams.

Antriebskraft zum Abheben

Das Geheimnis liegt unter Wasser: das Hydrofoil, eine Tragfläche unterhalb des Surfboards, die sich im Wasser so verhält wie Flügel in der Luft. Es besteht aus einem Mast, der unter dem Brett angeschraubt wird, und einer sogenannten Fuselage: einer schmalen, spindelförmigen Stange, die längs zwei Tragflügel miteinander verbindet. Der Frontflügel sorgt für den Auftrieb, der durch Druckunterschiede an der Ober- und Unterseite entsteht. Da Wasser eine höhere Dichte als Luft hat, erzeugen selbst kleine Flügel erstaunliche Kräfte. Der Heckflügel stabilisiert das Board. Über die Länge des Masts ragt er aus dem Wasser. Dadurch verringert sich der Widerstand im Wasser und das Board erreicht seine Gleitgeschwindigkeit.

Oliver Breuer, selbst leidenschaftlicher Wassersportler, erinnert das Fahrgefühl an Snowboarden im Tiefschnee, an Freiheit, Abenteuer. Er steckte die sechs Schüler seiner Technik-AG mit seiner Begeisterung an. Maximilian und Moritz interessieren sich für Naturwissenschaften und Technik, wollen Zusammenhänge verstehen. Darum unterstützen sie im Technikteam seit Jahren Schulveranstaltungen. Bei Abschlussfeiern, Theater- oder Musikaufführungen kümmern sie sich um Licht und Ton, den Auf- und Abbau. Oliver Breuer hat die Gruppe vor 15 Jahren gegründet. Das Hydrofoiling-Projekt ist für ihn auch eine Belohnung für die Schüler. „Das Interesse, ihr riesiges Engagement, ihre Ideen, wie sie sich einbringen, beeindrucken mich“, sagt Breuer. Mit Wassersport hatten die meisten aus der Technik-AG zuvor kaum Berührungspunkte. „Für uns ist besonders, etwas ganz Eigenes zu entwickeln“, sagen Maximilian und Moritz.

Mehr als zwei Jahre haben sie experimentiert, sich mit der Physik und der Technik hinter Hydrofoiling befasst. „Durch die Unterstützung der Baden-Württemberg Stiftung wurde das Projekt erst möglich“, sagt Breuer. „Die Materialkosten, die vom Programm übernommen werden, sind enorm.“ Bevor sie sich zum ersten Mal ins Wasser stürzen konnten, warteten viele Fragen: Wie wirken sich die Fläche und die Form der Front- und Heckflügel auf das Fahrverhalten aus? Welchen Einfluss hat die Länge von Mast und Fuselage? Wie wichtig ist das Material? Sie haben Präsentationen ausgearbeitet, sich mit Luft- und Reibungswiderstand auseinandergesetzt, mit dem Strömungsverhalten – und der Geschichte von Hydrofoiling, den Vorläufern. Die ersten Ansätze der Technologie entstanden Ende des 19. Jahrhunderts, um die Geschwindigkeit von Booten zu erhöhen, ohne mehr Kraftstoff zu verbrauchen. Der italienische Luftschiffkonstrukteur Enrico Forlanini entwickelte um 1900 das erste einsatzfähige Tragflügelboot: Angetrieben mit einem Propeller schwebte er damit über den Lago Maggiore. Foils werden heute bei Schiffen, Booten und seit Kurzem bei Sportgeräten eingesetzt. Sie verringern den Wasserwiderstand um mehr als die Hälfte und steigern die Effizienz. Das spart Energie und schont die Umwelt.

Bevor sie ihre eigenen Modelle testen können, müssen die Schüler das Surfen mit professionellen Hydrofoils ausprobieren, um mit den Abläufen vertraut zu werden. Nach Moritz ist Maximilian an der Reihe. „Mir fehlt noch ein wenig Übung“, sagt er. Es ist windig an diesem Tag, die Wellen sind stark. Das Brett treibt hin und her. Keine einfachen Bedingungen. Immer wieder rutscht Maximilian beim Versuch ab, sich nach oben zu stemmen. Er schwimmt wieder zum Board, versucht es erneut.

Was bei Erfahrenen mühelos aussieht, erfordert viel Technik. „Bis man sich auf dem Brett halten kann, können Tage vergehen“, sagt Breuer. „Es ist wie Einradfahren, nur dass wir gleich in die Vollen müssen: Festhalten geht nicht.“ Eine Geduldsprobe für Maximilian. Doch er gibt nicht auf, bis es ihm zumindest für Sekunden gelingt. „Zum ersten Mal auf dem Brett zu stehen ist besonders, den Wind zu spüren, ein Gefühl dafür zu entwickeln“, sagt der Jugendliche begeistert. Oliver Breuer begrüßt Maximilian mit Handschlag auf dem Boot. „Moritz und Maximilian haben in kürzester Zeit riesige Fortschritte gemacht.“

Learning by Doing: Lehrer Oliver Breuer erforscht mit Schülern seiner Technik-AG, wie Hydrofoils als umweltfreundliche und widerstandsarme Fortbewegungsmöglichkeit im Wasser und auf dem Wasser funktionieren.

Fliegen mit dem selbstgebauten Foil?

Auf dem schwankenden Boot schrauben Maximilian und Moritz am Mast und an der Fuselage aus Aluminium. Sie entfernen den Frontflügel und tauschen ihn gegen ihr selbstgemachtes Modell aus. Diesen „Boxenstopp“ haben die Schüler im Technikraum trainiert.

Drei verschiedene Foils haben sie konzipiert und gebaut, alle angelehnt an die professionellen Flügel: Sie haben Schablonen aus Pappe gefertigt, Vorlagen aus Holz gesägt. „Von diesem versprechen wir uns am meisten“, sagt Maximilian und zeigt auf einen Flügel: Er ist gemasert, wirkt etwas schwerer als der industriell gefertigte, nicht ganz so glatt. Während Profi-Foils aus Karbon, also Kohlefaser, bestehen, haben die Schüler Glasfaser verwendet. „Mit Kunstharz haben wir unseren Frontflügel geformt, verstärkt und wasserdicht gemacht, damit das Material nicht quillt“, erklärt Moritz. Möglichst leicht und stabil soll das Foil sein. Für den notwendigen Auftrieb sind nicht nur die Form und die Fläche, sondern auch die Dicke entscheidend. Flügel mit dünnem Profil sind zwar schneller, brauchen aber beim Start eine höhere Geschwindigkeit und erfordern mehr Balance. Je größer die Flügel, desto ruhiger das Foiling. Allerdings erhöht sich mit großen Flügeln auch der Wasserwiderstand.

Gemeinsam lassen sie ihr Hydrofoil ins Wasser gleiten. Der entscheidende Moment ist gekommen. Funktioniert es? Der Vorgänger konnte den Belastungen nicht lange standhalten. Oliver Breuer ist zuversichtlich: „Ausreichend stabil sollte das Foil sein. Ob Auftrieb und Kontrolle reichen, müssen wir sehen.“ Moritz hievt sich auf das Board. Es gelingt ihm aufzustehen. Noch vorsichtig rutscht er über die Wasseroberfläche und bemüht sich, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Vom Boot aus beobachten ihn Oliver Breuer und Maximilian gespannt. Das Board wirkt etwas behäbig. Moritz bleibt darauf stehen, reitet die Wellen wie ein Surfer. Sie beschleunigen das Boot immer mehr. Doch der Auftrieb scheint nicht zu genügen. Der Höhenflug bleibt dieses Mal aus. Das Board bleibt auf der Wasseroberfläche statt abzuheben. In einer Pause beratschlagen die drei am Ufer.

„Es war im Ansatz gut, aber noch etwas instabil“, zieht Moritz sein Fazit, als er wieder Land unter den Füßen hat. „Ich wusste nicht, was mich erwartet. Im Vergleich zum Profi-Foil hatte ich weniger Kontrolle.“ Breuer wirkt erleichtert und stolz. Er hat schon Ideen, was die Schüler verbessern könnten: „Ich vermute, durch die dickere Abrisskante kam es zu Verwirbelungen im Wasser. Wir müssen sie schleifen und schärfen.“ Das Experimentieren geht weiter: In Ruhe wollen die Schüler auswerten, warum sie mit ihrem Modell noch nicht abheben konnten. Bald, so hoffen sie, werden sie auch damit schweben – und über das Wasser fliegen.

Physik- und Technikunterricht der anderen Art: Oliver Breuer setzt auf Lernen durch selbst Experimentieren – und ist der Schulleitung für ihre Unterstützung dankbar.