- Markus Gabriel
Warum brauchen wir Utopien?

Der Philosoph und Autor Markus Gabriel wurde mit 29 Jahren der jüngste Philosophieprofessor Deutschlands. Kein leichter Weg, auf dem er durch das Eliteprogramm für Postdocs unterstützt wurde. Im Gespräch erzählt er, warum es sich lohnt, optimistisch zu sein – gerade, wenn man, wie er, Kinder hat, die eine Zukunft brauchen.

Nataly Bleuel

Schon als 14-jähriger Sohn einer Krankenschwester und eines Friedhofgärtners wussten Sie: Mit 30 bin ich Philosophieprofessor! War das grundoptimistisch oder naiv?

Markus Gabriel Ich wusste es einfach und hatte damit recht. Ob das Vorhersage war, naiver Optimismus oder viel Glück, ist damit natürlich nicht gesagt, sondern bleibt eine philosophische Frage. Alle Menschen glauben irgendwie an Schicksal. Wir glauben, dass irgendetwas in unserem Leben tiefere Bedeutung hat. Das bedeutet nicht, dass dahinter noch etwas Tieferes steckt. Wir wissen es nicht.

Für Sie war das, haben Sie mal gesagt, Ihre Frau kennengelernt zu haben und Vater geworden zu sein.

M.G. Ja, das ist ein Paradefall. Der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers nannte das Grenzerfahrung: Alles, was mit Leben und Tod zu tun hat, die Geburt von Kindern oder der Tod von Angehörigen oder Freunden sind Grenzerfahrungen, die uns das Gefühl geben, dass die Wirklichkeit mehr bedeutet als der oberflächliche Zufall. Ob das so ist, können wir nicht wirklich wissen. Aber wir glauben es. Ob religiös oder nicht. Auch Optimismus ist, politisch gesehen, ein Glaube. Der Glaube, dass wir großangelegte Ziele erreichen können, weil die Wirklichkeit uns entgegenkommt. Der Diplomat Isaac von Sinclair bezeichnete es als Gewissheit. Der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann nennt es gern: Zuversicht.

Entsteht Zuversicht aus Erfahrung? Wie war das, als Ihre Kinder zur Welt kamen? Dachten Sie darüber nach, ob man in diese Welt überhaupt noch Kinder setzen kann?

M.G. Vor dem ersten Kind habe ich das noch durchdiskutiert, aber eher theoretisch: Ist es vertretbar, angesichts der ökologischen Krisen, des Ressourcenmangels, der Überbevölkerung heute noch Kinder zu haben? Aber sicher ist das auch eine gegenderte Erfahrung. Wenn man als Frau ein Kind austrägt.

Ist das eine Gewissheit?

M.G. Genau, für mich als Mann war das noch derart theoretisch, dass ich zu meinen Freunden, die schon Kinder hatten, sagte: Aber ich liebe doch unseren kleinen Hund schon so sehr! Ob man Kinder noch mehr lieben kann? Alle lachten mich aus und der Philosoph Manfred Frank, der in Tübingen lehrte, sagte zu mir: „Warte ab, du wirst eine neue Liebe in deinem Busen spüren!“ In der Situation der Geburt war sofort klar: Erstens, die Liebe zu einem neugeborenen Menschen ist ganz anders als die zu einem Haustier. Und zweitens: Dies ist ein Mensch, ohne Unterschied zu anderen Menschen. In diesem Augenblick der Gewissheit hat sich meine Ethik geändert, mein philosophisches Nachdenken: Von der Theorie hin zu mehr Wertfragen.

Können Sie nachvollziehen, dass viele junge Menschen Angst vor der Zukunft haben?

M.G. Ich sehe das, aber ich denke, es liegt an der Perspektive. Da ich viel mit Menschen in Asien und Afrika diskutiere, sehe ich: Der Westen hat momentan ein apokalyptisches Weltbild, sowohl im politisch linken wie rechten Spektrum. Das ist aber provinziell. Das gibt es in Asien und Afrika so überwiegend nicht, selbst unter Lebensbedingungen, die für manche aussehen mögen wie eine Apokalypse: Überbevölkerung in Indien, autoritäre Regime wie in Indonesien, Kampf um das Südchinesische Meer. Aber die Menschen dort sind optimistisch. Ich arbeite mit Denkerinnen und Denkern aus Brasilien, Nigeria, Kenia, Botswana, Ghana. Dort findet man Optimismus! Das heißt, das apokalyptische Weltbild ist ein überwiegend europäisches Weltbild und keine objektive Wahrheit.

Der Klimawandel ist keine Wahrheit?

M.G. Doch, aber wir wissen nicht, wohin er führt. Wir kennen die Zukunft nicht, wenn unsere Modelle uns auch zu Recht Sorgen bereiten. Ich will überhaupt nicht bestreiten, dass es konkrete Manifestationen der vielfältigen Krisen unserer Zeit gibt, die bereits katastrophale Auswirkungen haben. Natürlich gibt es existenzielle Risiken. Aber ich möchte betonen, für die junge Generation: Wir wissen nicht, dass die Welt untergeht, zu viele glauben es nur. Wie genau das Wetter, die Jahreszeiten, der Alltag durch den Klimawandel werden, wissen wir nicht. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Konflikt mit Russland irgendwo anhält und eher zu einer Rückkehr in den Kalten Krieg der 80er wird, der den Westen auf seine Weise stabilisiert. Der dritte Weltkrieg ist ebenso wie jeder andere Weltuntergang derzeit noch vermeidbar, es liegt an uns Menschen, wie es weitergeht und wie wir leben werden. Oft entwickeln sich die Dinge anders als man im Moment befürchtet.

Haben nur wir im Abendland das Gefühl, es ginge unter? Weil wir befürchten, „abgehängt“ zu werden?

M.G. Wir kommen uns doch nur schwach vor! Ich habe kürzlich, selbst besorgt, eine russische Kollegin gefragt: Greift Putin die NATO an? Sie, Putin-Kritikerin durch und durch, meinte, das sei eine aberwitzige Vorstellung des Westens, vielmehr fürchte man in Russland selbst im Putin-kritischen Lager, dass die NATO zu weit geht. Und wirtschaftlich abgehängt sind wir, anders als der mediale Rummel sagt, überhaupt nicht: Deutschland hat Japan überholt und ist hinter den USA und China die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.

"Demokratie ist ein Projekt der Dauerverbesserung durch Reformen."

Haben wir ein psychologisches oder ein philosophisches Problem?

M.G. Sowohl als auch. Dass wir uns schwach fühlen, ist eine sozialpsychologisch hochinteressante Beobachtung. Der Kulturtheoretiker Hans Ulrich Gumbrecht nennt unser Gefühl, nur noch eine Gegenwart, aber keine Zukunft mehr zu haben „our broad present“. Das historische Weltbild, wie er dies nennt, demzufolge wir auf einem Pfad des Fortschritts sind, ist nicht mehr gegeben. Darauf reagieren wir mit Zukunftsangst und bleiben in der Gegenwart stecken, statt die Zukunft zu gestalten. Demokratie ist ein Projekt der Dauerverbesserung durch Reformen. Also brauchen wir eine philosophisch basierte Auffassung dessen, wer wir sind – und wer wir sein wollen. An einem Institut in Brasilien, an dem ich gerade war, nennt man dies eine „Reform der symbolischen Ordnung“, das heißt: eine Änderung unseres Selbstbildes.

Haben wir, weil wir mit der Gegen wart überfordert sind, verlernt, in Utopien zu denken?

M.G. Das würde ich sagen! Ich veranstalte Formate, in denen ich Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft insbesondere mit Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern zusammenbringe – mit dem Ziel, „realistische Utopien“ zu entwickeln. Bei einem Dinner stellte sich heraus, dass alle am Tisch über Zeppelinluftverkehr nachdenken, eingeschlossen hoch rangige Manager bei der Lufthansa Technik. Ein australischer Philosoph bemerkte an diesem Abend, jetzt wäre „future making“ nötig: Wir bräuchten Institutionen – die wir nicht haben –, die jetzt alle, die über die Zeppelin-Idee nachdenken, mit Wirtschaft und Politik zusammenbringen, um neue Wege im Flugverkehr zu entwickeln. Das wäre für mich eine realistische Utopie! An solchen konkreten Visionen des Guten sollten wir gemeinsam arbeiten und uns nicht mit dem Gedanken überfordern, beispielsweise jetzt sofort alle Kerosinflieger zu killen. Realistische Utopien sind Mischungen, sie sind hybrid und haben immer die Form von Kompromissen. Die brauchen wir auch für den Weg heraus aus der gesellschaftlichen Polarisierung, die uns nun auch in Deutschland heimsucht.

Wie könnte man Lust auf realistisches utopisches Denken machen?

Ich könnte mir vorstellen, dass man jungen Menschen im Gemeinschaftskunde-Unterricht nicht mehr nur beibringt, wie das politische System der Bundesrepublik funktioniert, sondern sie fragt: Was würdet ihr praktisch tun, wenn ihr heute Chefin oder Chef der NATO wärt? Oder Vorstandsvor sitzende eines Unternehmens? Wie würdet ihr handeln, wenn es eure Verantwortung wäre? Ich glaube, nur so kann man selbst das Gefühl haben, die Zukunft zu entwickeln. •

 

Markus Gabriel, geboren 1980, studierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zent rums für Philosophie. Er ist dort auch Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought, regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne sowie der New School for Social Research in New York City und war von 2022 bis 2024 Academic Director am The New Institute in Hamburg. Gabriel schreibt neben Fachliteratur auch Sachbücher wie „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: Universale Werte für das 21. Jahrhundert“, „Der Mensch als Tier: Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen“ oder „Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung“. Die Baden-Württemberg Stiftung hat Markus Gabriel im Rahmen ihres Eliteprogramms für Postdocs bei seiner Arbeit zu „Skeptizismus und Idealismus in der Antike“ von 2007 bis 2009 gefördert.

 

 

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