Alles Alltag – oder schon ein Abenteuer?

Fünf Stipendiatinnen und Stipendiaten des „BW-STIPENDIUMs“ erzählen von ihren Erfahrungen im Gastland und was Mut für sie bedeutet.

Alexandra Bürger
Lesedauer: 8 Minuten

Corragio, Igboya, Omets, Julgust, Courage 

Ob in Italien (Corragio), Nigeria (Igboya), Israel (Omets), Estland (Julgust) oder Frankreich (Courage): Mut heißt überall anders – und ist doch ein universell gültiger Wert. Fünf junge Leute aus dem BW-STIPENDIUM-Programm erzählen von ihren Erfahrungen im Ausland, warum sich der Blick über den Tellerrand lohnt und was Mut für sie persönlich bedeutet – buchstäblich und im Alltag. 

Salomé Skeirek (27) aus Heidelberg ist als BW-Stipendiatin der Berufstätigenlinie noch bis zum Frühjahr 2021 als Goldschmiedin an der „Accademia Delle Arti Orafe“ in Rom eingeschrieben, wo sie verschiedene Kurse zur Weiterbildung belegt hat.

Corragio

Lass mich kurz überlegen. Mut heißt auf Italienisch „coraggio“. Aus dem Stegreif fallen mir die Worte manchmal nicht gleich ein. Dabei spreche ich inzwischen gut Italienisch. Am Anfang meiner Zeit in Rom hat mir die Sprachbarriere zu schaffen gemacht: immer wieder nachfragen und zugeben müssen, dass ich wieder nicht alles verstanden habe. Aber ich bin eben die einzige Deutsche hier an der Akademie. Wir arbeiten sehr praxisbezogen. Ich lerne zum Beispiel, mikroskopisch kleine Steine zu fassen. Das erfordert Konzentration und Durchhaltevermögen. Mittlerweile bin ich seit über einem Jahr in meiner Traumstadt, in der ich unbedingt immer leben wollte. Deshalb habe ich zu Hause ja auch alle meine Zelte abgebrochen. Ich mag Abenteuer und Bewegung – und dann herrschte selbst hier pandemiebedingt Stillstand. Aber ich will nicht aufgeben und positiv bleiben. So wie viele Menschen hier auch. Die Italienerinnen und Italiener leben unter anderen Umständen als die Deutschen. Sie verdienen weniger, die Kinder wohnen sehr lange daheim. Es wird viel getan, um ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Dieses Bekenntnis zur Familie ist meiner Meinung nach auch eine Form von Mut, genau wie seinen Job und die Wohnung zu kündigen und woanders ein neues Leben anzufangen.  

Itay Hanya (27) studiert „Computer Science“. Er ist im Oktober 2020 zusammen mit seiner Freundin von Tel Aviv nach Stuttgart gezogen – für ein fünfmonatiges Informatik-Austauschsemester an der Hochschule Reutlingen. 

Omets

Grundsätzlich habe ich keine Angst vor Herausforderungen oder Veränderungen. Ich habe drei Jahre in der israelischen Armee gedient. In dieser Zeit musste ich oft Mut beweisen. Der Umgang mit der Möglichkeit, dass man auch verlieren kann, erfordert innere Stabilität. Die habe ich insbesondere meinem Vater zu verdanken. Er hat mir diese Haltung vorgelebt. Mut ist für mich ein Prinzip, das eigentlich überall auf der Welt gleichermaßen gilt. Im Kern geht es immer darum, die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen – wie sehr sich diese im Detail und von Land zu Land unterscheiden mögen. Und je älter man wird, desto mehr Mut braucht man. Erfahrung macht vorsichtig. Meine Freundin und ich haben aber nicht lange nachgedacht und sind trotz Pandemie im vergangenen Oktober nach Stuttgart gezogen. In den Monaten hier habe ich viel gelernt. Ich dachte zum Beispiel immer, dass alle Deutschen sehr diszipliniert sind und in der Regel tun, was Vorschrift ist. Zu meiner großen Erleichterung habe ich aber festgestellt, dass die Menschen sich hier auch nicht immer an die Vorgaben halten und auch mal Dinge tun, die eigentlich nicht erlaubt sind. 

Giulia Maion (21) aus Stuttgart war bis Ende 2020 insgesamt vier Monate in Estland und studierte dort an der Hochschule für Film und Fernsehen in Tallinn. Sie hat sich auf TV spezialisiert.

Julgust

Ich bin kein Angsthase, aber ich war schon aufgeregt vor der Abfahrt nach Estland. Das Baltikum war mir völlig fremd und ich wusste nicht, was mich erwartet. Aber Optimismus und vielleicht eine Portion Naivität sind für mich Teil mutigen Handelns. Andererseits wird der Grad an Mut auch von Angst bestimmt. Dafür ist Estland ein gutes Beispiel. Mit der weitgehend friedlichen „Singenden Revolution“ hat sich das Land als einer der ersten Staaten überhaupt im Jahr 1991 von der Sowjetunion abgelöst. Darauf sind die Estinnen und Esten sehr stolz: sich erkämpft zu haben, in einem souveränen Staat ohne Angst vor staatlicher Gewalt frei leben zu können. Heute macht sich dieser Mut zur Freiheit auch in der Angst vor staatlichen Einschränkungen bemerkbar. Die Menschen hier haben in der Pandemie sehr empfindlich auf Vorgaben der Regierung reagiert. Mir ist da manchmal fast mulmig geworden, weil es lange keine Maßnahmen gab, um das Virus einzudämmen. Und das, obwohl zum Beispiel die Digitalisierung in Estland schon lange weit fortgeschritten ist, viele Dinge schneller und einfacher funktionieren als anderswo und das Land so gesehen in vielerlei Hinsicht im Vorteil ist. Aber angesichts ihrer Geschichte konnte ich dafür Verständnis aufbringen. Und das ist es auch, was ich in Tallinn gelernt habe: andere Menschen besser zu verstehen. 

Ememobong Daniel (27) lebt in Lagos, Nigeria, und produziert dort Videos und Dokumentationen. Im Herbst 2020 begann sie ihr fünfmonatiges Studium an der Filmakademie in Ludwigsburg.

Igboya

Kurz nachdem ich in Ludwigsburg angekommen war, begannen in Lagos Proteste gegen Polizeigewalt. Auslöser war die Ermordung eines jungen Mannes durch eine Spezialeinheit. Daraufhin ging die Jugend auf die Straße. Das finde ich sehr mutig, gegen Terror und Korruption zu kämpfen, es hat Menschenleben gekostet. Das Gefühl der Ohnmacht, dass ich hier in Deutschland nicht so viel für meine Leute tun konnte, hat mir ziemlich zugesetzt. Aber ich habe trotzdem jeden Tag am Unterricht teilgenommen. Das ist für mich auch „Igboya“, wie Mut in meiner Muttersprache Yoruba heißt. Es ist der Mut, weiterzumachen und durchzuhalten. Ich kenne die politischen Verhältnisse in Deutschland nicht so gut, habe aber viel mit den Menschen hier in Ludwigsburg gesprochen. Viele haben es gerade auch nicht leicht. Es ist einfach eine Zeit des Verlusts. Ich bin trotzdem froh, dass ich mitten in der Pandemie hergekommen bin. Die Leute hier haben mir sehr geholfen, das hatte ich so nicht erwartet. Auch an der Uni war die Unterstützung groß und der Umgang offen. Ich hatte schon immer viele Ideen, war aber bislang immer eher die Organisatorin. Hier an der Filmakademie bin ich zum ersten Mal selbst richtig kreativ geworden. Dass ich so viele talentierte Menschen aus aller Welt treffen konnte, war für mich das pure Glück. 

Alisa Rüttler (27) lebt gerade in Strasbourg und sammelt nach einem Praktikum beim Europarat jetzt beim EU-Programm „Interreg Oberrhein“ Berufserfahrung. Der Auslandsaufenthalt ist Teil ihres Master-Studiums der „European Public Administration“.

Courage

Ich bin ein Mensch, dem Gerechtigkeit sehr wichtig ist. Deshalb mische ich mich, wenn es nötig ist, ein und widerspreche auch, wenn ich etwas nicht in Ordnung finde. Dieser Mut zum Widerspruch ist hier in Frankreich vielleicht nicht so gern gesehen, das ist zumindest mein Eindruck. Ich lebe seit dem vergangenen Herbst in Strasbourg und fühle mich wie zu Hause. Dabei bin ich eigentlich sehr heimat- und familienverbunden. Als Kind hatte ich schon nach ein paar Tagen im Ferienlager Heimweh. Das hat sich gründlich geändert. Mein erstes Abenteuer in der Fremde war ein Au-pair-Aufenthalt in der französischen Schweiz, danach war ich in Hamburg. Später bin ich für ein halbes Jahr nach Sydney in Australien gezogen und jetzt lebe ich im Stadtzentrum von Strasbourg – dank des BW-STIPENDIUMS, das macht vieles leichter. Meine Erfahrung ist, dass der Mut, den es braucht, um ins Ausland zu gehen, schnell belohnt wird. Mit tollen Erfahrungen, neuen Freunden und einem Gefühl dafür, wie groß die Welt ist. Aber klar, um Mut geht es ganz oft auch im Kleinen. Ich habe zwar schon an verschiedenen Orten gelebt, aber ich traue mich bislang nicht, einen Kurs an der Salsa-Schule hier im Haus zu belegen. Warum? Ich weiß es auch nicht.