Götterdämmerung des Menschen
Wie Mut und Demut sich nicht ausschließen, sondern wechselseitig verstärken, das hat Corona uns allen vor Augen geführt. Los ging es damit, dass wir im Frühling 2020 ordentlich eins auf den Deckel bekommen haben: Während im Silicon Valley an der Unsterblichkeit des Menschen geforscht wurde, indem Gehirne tiefgefroren oder als Datensatz in einer Cloud gespeichert wurden, erstickten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser Tausende von Menschen, die zwei Wochen vorher noch Geburtstag gefeiert oder Urlaubspläne für den Sommer gemacht hatten. In den Nachrichten sahen wir Bilder von Patientinnen und Patienten an Beatmungsmaschinen und Ärztinnen und Ärzten in Ganzkörperschutzanzügen und waren – man kann es nicht anders sagen: geschockt. Die Erfahrung, dass da etwas ist, das sich unserer Kontrolle entzieht, hat uns fassungslos gemacht, weil wir es als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts nicht gewohnt sind, wenn Dinge außerhalb unserer Verfügbarkeit liegen. Die Folge war ein Gefühl der Ohnmacht. Die Menschen hatten Angst. Manche zogen sich zurück und wurden leise, andere gingen auf die Straße und wurden laut, wieder andere behaupteten einen Tick zu deutlich, überhaupt keine Angst zu haben, alle zusammen litten unter Isolation und fehlender Geselligkeit – ohne Zweifel wurden viele von uns zumindest daran erinnert, dass es so etwas wie Demut überhaupt gibt.
Seit der Aufklärung hat sich der westliche Mensch immer weiter von Fesseln gelöst. Erst hat er sich vom Einfluss der Kirche, dann von bürgerlichen Konventionen befreit, ist rationaler, unabhängiger, autonomer geworden. Doch der von Immanuel Kant propagierte Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit ist erst Wirklichkeit geworden und dann: außer Kontrolle geraten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir uns in einem Hyperindividualismus, ja in einer Art prometheischer Ich-Sucht verheddert. Zwar vernetzen sich alle, aber oft halt nur, um ein paar Vorteile für sich rausschlagen zu können und die eigene Agenda voranzutreiben. „Unterm Strich zähl ich“, lautete ein Slogan der Postbank. Der Glaube, dass das eigene Schicksal in den Händen eines gnädigen Gottes liegt, verflüchtigte sich in dem Maße, in dem der westliche Mensch sich aufmachte, sein eigener Gott zu werden – denn worum geht es in den sozialen Netzwerken anderes als sich als unverwechselbar zu inszenieren und irgendwie auch: verehren zu lassen? Wenn wir ehrlich sind, reden, denken, fühlen und fordern wir meistens in der ersten Person. Homo Deus heißt ein Bestseller des israelischen Historikers Yuval Noah Harari – der Mensch als Gott. Und dann sprang dieses Virus auf einmal von Kontinent zu Kontinent und von Mensch zu Mensch, und wir beginnen zu ahnen, dass es mit der eigenen Gottwerdung noch eine Weile dauern wird.
Der Soziologe Zygmunt Bauman hat das Problem unserer Zeit schon vor Jahren erkannt: „Die Gefahr ist, dass das Muster von Beziehungen so wird wie das Verhältnis zu einem Gebrauchsgegenstand. Es ist wie bei der Barbiepuppe. Kommt die neue Version auf den Markt, tauscht man die alte gegen diese aus.“ Seine Befürchtung hat sich bewahrheitet: Es ist dieses jederzeit modifizierbare Handeln, das auf dem globalen Markt der unendlichen Möglichkeiten die größten Erfolgschancen verspricht. Wir ahnen erst allmählich, dass wir für unsere Freiheit und Unverbindlichkeit einen Preis zahlen müssen, ja dass unsere Überzeugung, dauerhafte Bindungen stünden unserem Glück im Wege, falsch ist, weil sie eine Spaltung der Gesellschaft begünstigt, in der sich jeder selbst der Nächste ist.