Gesellschaftliche Frühwarnsysteme
Erlebte und miterlebte Gewalt in der Kindheit ist ein Trauma, das oft das ganze Leben lang nachwirkt. Aber es gibt Unterstützung – von der niedrigschwelligen Beratung bis hin zu diversen Therapieangeboten in der Jugendhilfe. Sie muss aber in Anspruch genommen werden können. Das ist leichter gesagt als getan, vor allem in Zeiten einer Pandemie. Nachdem vor der Coronakrise knapp ein Fünftel der Kinder psychische Auffälligkeiten zeigten, sind inzwischen bis zu einem Drittel aller Kinder in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt, sagt Jugendpsychiater Jörg M. Fegert. Die Herausforderungen der vergangenen Jahre haben in vielen ohnehin schon finanziell und emotional belasteten Familien den oft feinen Firnis von Wohlwollen und Bemühen abgeschliffen. Die Nerven liegen blank. Dass die Pandemie gerade solchen Familien besonders stark zusetzt, merkt Fegert tagtäglich in seiner Arbeit: „Viele haben während der Pandemie auf Hilfe verzichten müssen oder sie erst zu spät gesucht. Wir schieben eine riesige Bugwelle vor uns her.“ Er
plädiert deshalb für einen großangelegten entlastenden „Recovery-Plan“. Gefährdeten Kindern und Familien müsse so früh wie möglich geholfen werden – am besten schon präventiv.
Das Problem: Niemand kann hinter geschlossene Türen blicken. Und die eigentlich so wichtigen Kontakte zu anderen Menschen wurden während der Pandemie immer wieder stark eingeschränkt. Schulen und Kindergärten waren in mehreren Phasen geschlossen, Jugend- und Vereinsarbeit wurden untersagt – und damit auch die gesellschaftlichen Frühwarnsysteme deaktiviert. „Die Situation schreit danach, dass man etwas tut“, sagt Fegert. Das Programm Familienorientierte Prävention häuslicher Gewalt der Baden-Württemberg Stiftung könne dabei einen wichtigen Impuls geben. Es wird gerade als „lernendes“ Programm entwickelt und will die Perspektiven und die jeweiligen (Entwicklungs-)Möglichkeiten aller Mitglieder in der Familie gleichermaßen berücksichtigen, sie individuell bestmöglich unterstützen und gegebenenfalls Hilfe vermitteln.
Voraussetzung für eine präventive Verbesserung der Situation wäre es auch, bereits existierende Hilfsmöglichkeiten und Anlaufstellen interdisziplinär zu vernetzen und Angebote zu synchronisieren. In einem relativ starr organisierten und finanzierten sozialen Hilfssystem ist dieser Ansatz indes beinahe revolutionär. „Aber wir haben die Pflicht, den Kindern wieder Sicherheit und Chancen zu geben“, sagt Fegert. Es ist die Aufgabe von Staat und Gesellschaft, den Kindern Gehör zu schenken und ihnen eine Stimme zu verschaffen. Die Beschreibung der eigenen Situation ist ein erster Schritt und kann insbesondere für belastete Kinder ein befreiendes Erlebnis sein. In der Psychologie spricht man von Selbstwirksamkeit. „Ein ganz wichtiger Schutzfaktor“, sagt Ute Ziegenhain.
Selbstwirksamkeit erleben
Selbstwirksamkeit können Kinder nicht nur im privaten Umfeld der Familie entwickeln. Sie entsteht auch durch Teilhabe am öffentlichen Leben – bei Grillabenden im Hinterhof, Fußballturnieren auf dem Bolzplatz ums Eck oder den Nachmittagen auf dem großen Spielplatz. Im öffentlichen Raum begegnen Kinder der Vielfalt ihrer Mitmenschen, wie in der Familie lernen sie hier soziales Miteinander. Doch auch über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus ist es für Kinder wichtig, dass ihr Umfeld von vertrauten und verlässlichen Beziehungen geprägt ist. Schulweghelfer, die nette ältere Dame von gegenüber oder der Klassenkamerad im Nebenhaus – soziale Netze entstehen leichter dort, wo jeder jeden kennt. Diese gewachsenen Strukturen sozialer Kontrolle im positiven Sinne hat auch die Stadtplanung im Blick, die das Zusammenleben ihrer Bürgerinnen und Bürger zunehmend in sogenannten Quartieren organisiert – gewissermaßen ein städtebauliches Äquivalent zu familiären Beziehungsstrukturen.
Auch in Ulm steht Quartiersarbeit ganz oben auf der städtischen Agenda. Oberbürgermeister Gunter Czisch, ehemals Mitglied in der Expertenkommission Sicherheit im Wandel der Baden-Württemberg Stiftung, hat dabei das große Ganze im Blick. „Es geht um das republikanische Wir“, sagt er. Und zu diesem Wir gehören selbstverständlich auch die Kinder. „Indem sie ihre nähere Umgebung erkunden, lösen sich Kinder von den Eltern. In diesem informellen Bildungsraum haben sie die Gelegenheit, Neues zu lernen.“ Um das zu ermöglichen, müssen sich Kinder sicher fühlen. Aber mindestens genauso wichtig ist ein Mindestmaß an Bewegungsfreiheit, um die Welt entdecken zu können. Dieses Spannungsfeld kann eine Kommune vor große Herausforderungen stellen – auch, weil viele Eltern maximale Sicherheit einfordern.
Kommunalpolitik, Stadtplaner und soziale Einrichtungen vor Ort müssen sich immer wieder fragen: Was wollen und brauchen Kinder? Um auf diese Frage passende Antworten zu finden, müssen Kinder selbst zu Wort kommen. In Ulm können sich Kinder und Jugendliche in der Jugendvertretung „Jugend aktiv in Ulm“ beteiligen und sich so Gehör verschaffen. Und es gibt auch immer wieder Aktionen wie Fotoexkursionen für Kinder durch die Stadt, um herauszufinden, welche Ecken für sie interessant sind. Häufig sind es Orte, die unfertig sind und Raum für Fantasie lassen. Keine Überraschung eigentlich. „Aber Bedürfnisse von Kindern werden nach wie vor durch die Brille von Erwachsenen betrachtet“, gibt OB Czisch zu. Das hat gesellschaftliche Ursachen. In der Regel arbeiten heute beide Eltern, die Kinder verbringen einen Großteil des Tages in Schulen, Nachmittagsbetreuungen oder Sportvereinen. In Ulm wird deshalb versucht, auch an diesen Orten im gegebenen Rahmen Freiheiten zu schaffen. Diese Räume und Flächen sollen zugänglich und vielfältig nutzbar sein. Die Entwicklung ist das direkte Resultat der gesellschaftlichen Einstellung: „Man soll den Kindern mehr zutrauen, anstatt das Korsett immer enger zu schnüren“, findet der Oberbürgermeister.