Rainer Wendt erinnert sich daran, wie er am Nachmittag des 11. September 2001 mit seiner Familie im Auto saß. Der Radiosprecher berichtete, zwei Flugzeuge seien in die Türme des New Yorker World Trade Centers geflogen. „Meine beiden Töchter auf dem Rücksitz sagten, sie haben Angst“, erzählt Wendt, der damals Dienstgruppenleiter der Duisburger Polizei war. „Und mir ging es genauso.“ Ihm sei sofort klar gewesen, dass seine Kolleginnen und Kollegen auf eine Tat wie diese nicht vorbereitet waren. In den darauffolgenden Jahren machte er es sich zur Aufgabe, Deutschland sicherer zu machen. Heute ist Wendt Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft und gilt als Deutschlands kompromisslosester Verfechter von Recht und Ordnung.
Vor 9/11 spielte das Thema Sicherheit für die Deutschen keine zentrale Rolle. Es war das Zeitalter der Freiheit: Der Eiserne Vorhang war gefallen, Menschen (aus den wohlhabenden Weltregionen) und Waren bewegten sich nahezu ungehindert über den gesamten Erdball. Hinzu kam mit dem Internet eine völlig neue Sphäre der weltumspannenden Kommunikation. Doch mit den New Yorker Twin Towers schien der Glaube an grenzenlose Freiheit in sich zusammenzubrechen. Terroristen missbrauchten die Symbole der Globalisierung und des Liberalismus für ihre Ziele: Über das Internet konnten die weltweit operierenden Al-Qaida Zellen Anschläge planen, bequem vom Schreibtisch aus. Und Flugzeuge, die mehr als jedes andere Mobilitätsmittel für grenzenlose Bewegungsfreiheit stehen, wurden zur mörderischen Waffe. Einen Monat nach den Anschlägen beschloss der US-Kongress den USA PATRIOT Act. Durch dieses Bundesgesetz bekamen die Sicherheitsbehörden weitreichende Befugnisse für die Terrorabwehr zugesprochen – unter anderem darf das FBI, die zentrale US-Sicherheitsbehörde, seitdem ohne richterlichen Beschluss Terrorverdächtige abhören. Auch in Deutschland setzte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily nur einen Monat nach den Anschlägen Maßnahmen durch. Das Terrorismusbekämpfungsgesetz
ermöglichte es Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz, Fluggastdaten auszuspähen. Eigentlich sollte das Gesetz auf fünf Jahre befristet sein – es gilt bis heute, wurde 2020 sogar entfristet.
Sind Überwachungsmaßnahmen legitim, weil sie dazu beitragen, Attentate zu verhindern und Menschenleben zu retten? Immerhin 40 Prozent der Deutschen sagten im Jahr 2013, sie befürworteten die Massenüberwachung von Bürgerinnen und Bürgern im Internet. Kurz zuvor hatte der Whistleblower Edward Snowden aufgedeckt, wie weitreichend diese mittlerweile ist. Er machte bekannt, dass der US-Auslandsgeheimdienst NSA weltweit und verdachtsunabhängig Menschen überwacht. Millionen E-Mails, die mitgelesen, Handytelefonate, die abgehört werden – von der Kanzlerin über Wirtschaftsgrößen bis hin zu den einfachen Bürgerinnen und Bürgern. Im Jahr der Enthüllungen warnte Snowden: Die Überwachung übertreffe George Orwells Dystopie im Roman 1984. „Wir haben Detektoren in unseren Taschen, die uns folgen, wo immer wir hingehen“, sagte Snowden. „Denken Sie darüber nach, was das für den Durchschnittsmenschen bedeutet.“
Das gesellschaftliche Selbstverständnis hat sich seit dem 11. September verändert. Wenn man sich absolute Freiheit und absolute Sicherheit als zwei Enden einer Skala vorstellt, dann könnte man sagen: Der Punkt, der den Zustand der Welt beschreibt, hat sich weit in Richtung Sicherheit verschoben. Doch ist das ein Problem? Braucht nicht jede Gesellschaft ein gewisses Maß an Sicherheit, damit sich alle Bürgerinnen und Bürger wohlfühlen?