Ein Akt der Abwägung
Im Rechtsstaat wird das Individuum geschützt: vor Gewalt, vor Zensur, vor Diebstahl, vor Willkür und vor Diskriminierung. Aber immer wieder gibt es Fälle, wo dieser Schutz an eine Grenze kommt, nämlich dort, wo das Individuum in direktem Konflikt steht mit etwas Größerem: dem Gemeinwohl. Das Interesse aller macht es manchmal nötig, dass Einzelnen Dinge zugemutet werden, die sie sonst vielleicht nicht tun würden. Das beginnt beim Zahlen von Steuern, mit denen etwa Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Verwaltung, Polizei und Justiz finanziert werden. Und es reicht bis hin zu Fällen, in denen wichtige Infrastruktur entstehen soll. Dann kann der Staat dem Einzelnen auch Haus und Hof wegnehmen. In den allermeisten Fällen reicht die Drohung: Auch Familie Schulte-Pelkum hat ihren Hof am Ende an die Autobahngesellschaft verkauft, bevor es auf dem Rechtsweg zur Enteignung und finanziellen Entschädigung kam.
Das Grundgesetz sichert zwar das Eigentum, lässt aber auch ein Schlupfloch: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“ Mehr als hundert Menschen werden jedes Jahr in Deutschland enteignet – nicht nur für den Straßenbau, sondern auch für den Braunkohleabbau oder für Stromleitungen, Pipelines, Eisenbahnlinien. Wenn enteignet wird, dann kennt das Gesetz kein Alter. Auch ein „Recht auf Heimat“ gibt es nicht, urteilte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2013. Damals hatte ein Polizist gegen die Zerstörung seines Hauses für den Braunkohleabbau im Tagebau Garzweiler II geklagt und verloren. Wie lange eine Familie ein Haus besitzt, ist egal. Selbst ob ihr das Grundstück zehn oder mehr als 1.000 Jahre gehört, macht keinen Unterschied.
Es ist kein Wunder, dass die Definition dessen, was Gemeinwohl bedeutet, umkämpft ist. Lässt sich ein 200 Jahre altes Bauernhaus aufwiegen gegen eine Straße? Ist der Komfort der Pendlerinnen und Pendler, die durch die neue Autobahnspur weniger im Stau stehen, wichtiger als das Zuhause der Schulte-Pelkums?