Der Weg von Matthias Berg
Die Perspektive ändern

Matthias Berg brilliert als Hornist, holte als Sportler 27 Medaillen bei Paralympics und Weltmeisterschaften und war Stellvertreter des Esslinger Landrats. Heute ist der Jurist ein gefragter Moderator und Coach. Er kam mit einer Contergan-Behinderung zur Welt.

Sylvia Rizvi
Lesedauer: 4 Minuten

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„Krüppel“, „Kurzärmle“, „Kupferdächle“ – so nannten ihn Mitschüler, als der damals zehnjährige Matthias Berg mit seiner Familie in die Kleinstadt Trossingen zog. „Kupferdächle“ wegen seiner roten Haare. Für den Jungen ein Schock. Zuvor hatte er in Detmold gelebt und war gut integriert gewesen. Doch nun, in der neuen Umgebung, war alles anders. In der fünften Klasse packte ihn ein Mitschüler immer wieder von hinten und warf ihn zu Boden. „Das war ätzend“, erinnert sich Berg. „Ich war einige Jahre Außenseiter. Es war schwer, den Mut nicht zu verlieren.“

Doch er hat den Mut nicht verloren. Heute sagt der 62-Jährige: „Die Behinderung hat mein Leben vielfältig gemacht.“ Als Sportler etwa konnte er gleichzeitig Teil von zwei Nationalmannschaften sein. „Im Winter war ich im Ski-Alpin-Nationalteam, im Sommer in der Leichtathletikmannschaft.“ Das sei im Nichtbehindertensport eher ungewöhnlich. Auch beruflich ist sein Leben bunt. Rund 23 Jahre war er Führungskraft in der Verwaltung, heute ist er Redner, Coach und Führungskräfte-Trainer, insbesondere zu Themen wie Motivation, Selbstmanagement und Resilienz.

„Ich war einige Jahre Außenseiter. Es war schwer, den Mut nicht zu verlieren. Doch die Behinderung hat mein Leben vielfältig gemacht.“
Matthias Berg (62)

Humor trotz Anfeindungen
Er verfügt über zwei Studienabschlüsse, als Hornist und als Jurist. „Als Kind kam ich zum Horn, weil ich drei Finger an jeder Hand habe und das Horn drei Ventile – das passte“, berichtet Berg. „Bei Tasteninstrumenten hätte ich mehr Finger gebraucht. Bei Streichinstrumenten mehr Reichweite, die fehlt mir mit meinen kurzen Armen.“ Seine Eltern unterstützten ihn beim Finden und Erlernen des Instruments. Mit 19 Jahren gewann er den Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“. Danach begann er das Horn-Studium. Weil er fürchtete, wegen seiner Behinderung später keine Orchesterstelle zu finden, schrieb er sich gleichzeitig in Jura ein. „Da ist der Kopf wichtiger als der Körper“, so seine Überlegung.

Berg erzählt seine Geschichte mit Humor. Doch bis zu dieser heiteren Haltung war es ein langer Weg. Nicht nur in der Schule, auch während des Studiums in Freiburg erlebte er Anfeindungen. Ein Betrunkener rief ihm „Zum KZ geht’s linksrum“ hinterher. Und in einer Kneipe rempelte ihn ein Mittvierziger mit den Worten an: „Vor 30 Jahren hätten sie Typen wie dich noch vergast.“ „Damit bin ich nicht gut klargekommen“, sagt Matthias Berg. „Ich war verletzt, wütend und fühlte mich hilflos.“

Mit der Zeit habe er gelernt, Diskriminierungen zu überstehen und gestärkt daraus hervorzugehen. Eine entscheidende Rolle spielte die Unterstützung von Freunden und Familie. Sie waren in schweren Momenten seine Stütze. Oft halfen sie ihm auch, seine Perspektive zu ändern. Zum Beispiel ärgerte es Berg früher, wenn er angestarrt wurde. „Ein Freund hat mir eines Tages gesagt: ,Mit deinen kurzen Armen und den roten Haaren wirst du immer auffallen.‘“ Wenn ihn das störe, hätte er ein mühsames Leben. „Da musste ich ihm recht geben.“ So fand Berg einen neuen Blickwinkel: Er erkannte, dass ihn die meisten Menschen anschauten, weil sie unsicher waren. „Diese Einsicht hat mir enorm geholfen, entspannter durch die Gegend zu laufen.“ Wenn ihn heute jemand anblickt, sendet er ihm oder ihr ein Lächeln, um Unsicherheiten überwinden zu helfen. „Meist kommt ein Lächeln zurück.“

Akzeptanz ist der Schlüssel
Und wie gibt man sich gegenüber Typen, die beleidigend werden? In solchen Fällen hält es Berg mit dem Sprichwort: Was kratzt es die deutsche Eiche, wenn sich eine Wildsau an ihr reibt? Er sage sich schlicht, dass er mit solchen Leuten nur wenige Sekunden zu tun habe. Die Aggressoren dagegen müssten sich ein Leben lang ertragen. „Aber klar, das brauchte schon ein paar Jahre Übung.“ Wenn ihn dennoch ein Vorfall mitnimmt, hilft ihm autogenes Training.

Eine wichtige Einsicht verdankt Berg anderen Sportlerinnen und Sportlern mit Behinderung. Deren Wirken begleitet er gelegentlich als Mental-Coach und als ZDF-Experte bei den Paralympics. Die meisten sind wegen schwerer Unfälle behindert. Ihn trieb die Frage um, wie es ihnen gelang, den schwersten Moment ihres Lebens zu bewältigen, nämlich aufzuwachen und zu erkennen, dass sie querschnittsgelähmt waren oder ein Bein verloren hatten. Wie konnten sie ein paar Jahre später auf dem Treppchen stehen und sagen: „Ich hatte noch nie ein so erfülltes Leben wie heute“?

Inzwischen weiß er: Entscheidend sind die Akzeptanz des Unveränderlichen und die Bereitschaft zur Veränderung. Die Athletinnen und Athleten nehmen ihr neues Leben an. Sie schwenken von der Frage: „Was fehlt mir?“ hin zu „Was habe ich noch?“ Sie nutzen ihre neu entdeckten Ressourcen und fragen nicht mehr: „Warum ist es gerade mir passiert?“, sondern „Wozu ist es gut?“

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