Eine eigene Visitenkarte

Im Jahr 2013 gab es noch keinen schulrechtlichen Anspruch auf inklusive Beschulung. Dennoch startete die Baden-Württemberg Stiftung damals gemeinsam mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universitätsklinik Ulm das Programm Schulbegleiter. Entstanden ist ein Curriculum für Fortbildungen zum Schulbegleiter, das mittlerweile rund 2.000 Personen erfolgreich absolviert haben. Wie wichtig deren Unterstützung für Schülerinnen und Schuler mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen ist, zeigt ein Beispiel aus dem Kreis Emmendingen.

Daniela Frahm

Die Chemie stimmt sofort wieder, obwohl sie sich schon lange nicht mehr gesehen haben, und die Freude über das Treffen in Emmendingen ist ihnen anzusehen: Ulrich Hartmann und Tobias P. haben mehrere Jahre miteinander verbracht – nebeneinander im Klassenraum und auch außerhalb des Schulgebäudes. „Ich weiß nicht, was ohne ihn aus mir geworden wäre“, sagt der inzwischen 22-jahrige Tobias, der als IT Fachinformatiker voll im Berufsleben steht, über seinen ehemaligen Schulbegleiter.

Hartmann kann sich noch genau erinnern, wie sein früherer Schützling eine Leidenschaft für Informationstechnologie entwickelt hat. Als im Emmendinger Goethe-Gymnasium die Projekttage anstanden, „da hattest du keinen Bock auf alles, was dort angeboten wurde“, sagt Hartmann an Tobias gewandt. „Und als ein externer System-Administrator in die Schule kam, hast du gefragt, ob du da nicht helfen kannst – und hast mit ihm zusammen 150 Computer aufgesetzt.“ Tobias lacht. „Das war in der 9. Klasse. Seine Visitenkarte habe ich noch. Und jetzt habe ich meine eigenen.“ Stolz zeigt er sie. In der IT-Firma hat er zunächst Praktika gemacht, nach der Schule dann eine Ausbildung, und mittlerweile ist er dort fest angestellt.

Dabei war zwischenzeitlich gar nicht klar, ob er überhaupt einen Schulabschluss schaffen wurde. „Bis Uli in mein Leben kam, hatte ich eine Schulzeit, die man niemandem wünschen würde, mit Polizei- und Krankenwageneinsätzen“, erzählt Tobias, „es wurde behauptet, ich hätte mit Tischen und Stühlen geworfen.“ Die Lehrerinnen und Lehrer waren mit ihm überfordert, er musste mehrfach die Schule wechseln, einige lehnten ihn ab. Als Drittklässler bekam er dann die Diagnose Autismus, war in der Tagesklinik der Universitätsklinik Freiburg und bekam Medikamente.

Im letzten Halbjahr der 4. Klasse hatte er erstmals einen Schulbegleiter und wechselte danach auf eine Realschule. Auch dort waren die Lehrkräfte ihm und seinen Besonderheiten nicht gewachsen. Weil Autisten ihre Freiräume brauchen, gab es für ihn Ausnahmeregeln: Er musste nicht an Gruppenspielen teilnehmen, durfte über Kopfhörer Musik hören und in den Pausen im Klassenraum bleiben. Als ihm das ein Lehrer verweigerte, „sind mir die Sicherungen durchgebrannt“, erinnert sich Tobias. Damit war auch an dieser Schule wieder Schluss für ihn. Er hatte jedoch Glück: Der Schulleiter des Emmendinger Goethe-Gymnasiums nahm ihn auf und Ulrich Hartmann wurde sein Schulbegleiter. Bis zur 8. Klasse war er immer an seiner Seite, danach noch in etwa 70 bis 80 Prozent des Unterrichts.

Vertrauen und Verschwiegenheit

Anfängliche Skepsis von Lehrkräften angesichts eines Erwachsenen in der Klasse konnte Hartmann schnell zerstreuen: „Verschwiegenheit ist wichtig. Ich mache den Lehrern gleich klar, dass sie sich darauf verlassen können.“ Er ist selbst auf ein Vertrauensverhältnis angewiesen, bittet beispielsweise darum, Klassenarbeiten ein paar Tage vorher sehen zu können. Nicht, um seine Schülerinnen und Schüler darauf vorzubereiten, sondern darum, Hürden in Aufgabenstellungen zu erkennen, die sich zum Beispiel für autistische Schuler ergeben könnten. „Ein Nachteilsausgleich ist wichtig“, erklärt er, „der kann darin bestehen, dass Aufgaben im Abi einzeln gestellt werden oder dass kein Perspektivwechsel in Deutsch gefordert wird, den Autisten nicht leisten können.“ Um das zu erkennen, brauche es „Jahre, Fingerspitzengefühl und Wissen.“

Hartmann war selbst Lehrer, hat aber schon nach ein paar Jahren Unterricht wieder aufgehört und arbeitet inzwischen seit mehr als 16 Jahren freiberuflich als Schulbegleiter. Die meisten Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter sind hingegen bei öffentlichen oder freien Trägern angestellt. Eine klassische Ausbildung gibt es nicht. Das Programm der Baden-Württemberg Stiftung zur Fortbildung von Schulbegleitern sei deshalb „nicht hoch genug zu bewerten“, betonte Hartmann, weil es eine Grundqualifizierung biete.

Durch das Programm der Stiftung wurden zunächst Daten durch Umfragen in den Schulen erhoben und Bedürfnisse erfragt. Daraus wurde das Curriculum zur Fortbildung von Schulbegleitern entwickelt und 2017 veröffentlicht. In seinen Modulen enthält es sowohl theoretische als auch praxisorientierte Teile. „Vorher war fast gar nichts bekannt, es gab zwar Schulbegleiter, aber so gut wie keine Literatur dazu“, berichtet Dr. Ruth Himmel von der Kinder und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universitätsklinik Ulm. Seitdem haben rund 2.000 Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter diese Fortbildung durchlaufen. „Es war wichtig, vom Kind aus zu denken und abzuleiten, was für seine Unterstützung gebraucht wird“, erklärt Himmel, „deswegen war die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm Partner des Programms. Und die Stiftung hat Interesse daran, dass es sich verstetigt.“

„Die Fortbildung ist für Baden-Württemberg ein großer Gewinn“

Das sei schon jetzt der Fall. Denn bereits in der ersten Projektphase gab es ein sogenanntes Multiplikatoren-Programm. „Das Programm läuft seit etwa fünf Jahren fast alleine, die Uniklinik konnte sich auf die Evaluation konzentrieren“, sagt Himmel, „es ist tatsächlich eines meiner Lieblingsprojekte, weil wir wirklich etwas bewirkt haben. Es gab Nöte, und wir sind in eine Lücke gestoßen. Jetzt gibt es eine Grundqualifizierung für Schulbegleiter.“

Diese Grundqualifizierung ist praxisorientiert mit Rollenspielen und Gruppenarbeiten, die den Austausch fördern. Es gibt Interventionsmodule, in denen ein Problem gemeinsam zu lösen ist. Zuvor hatte etwa ein Drittel der Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter keine Einarbeitung und keine psychologische oder pädagogische Ausbildung, weiß Himmel: „Das Fortbildungsprogramm ist für Baden-Württemberg deshalb ein großer Gewinn.“ Das haben in den Fragebogen über 98 Prozent der Teilnehmenden bestätigt. Insgesamt gibt es allerdings eine hohe Fluktuation bei den Schulbegleiterinnen und Schulbegleitern, und etwa 30 Prozent sind Quereinsteiger, die beispielsweise aus den Bereichen Floristik, Konditorei oder aus kaufmännischen Berufen kommen. „Aber viele haben ein hohes Engagement und Empathie“, hat Himmel beobachtet. „Wichtig ist vor allem: Was brauchen die Schuler unabhängig von ihrer Beeinträchtigung?“

Ulrich Hartmann gehört zu den Multiplikatoren der Schulbegleiter-Fortbildung und kann zudem auf seine langjährigen Erfahrungen sowie seine pädagogische Ausbildung bauen. „Ich habe viele Dutzend Schüler begleitet und zu fast allen noch guten Kontakt“, erzählt er. „Die Fälle nehmen mich dabei nicht so mit wie die politische Situation.“ Er habe schon sehr viele verzweifelte Eltern erlebt, die sich von Ämtern im Stich gelassen gefühlt haben. Das habe Familien zerstört. Nach einer ärztlichen Diagnose müssen Eltern beim Jugendamt – oder bei körperlichen Beeinträchtigungen beim Sozialamt – einen Antrag auf Schulbegleitung stellen. „Schulbegleitung ist teuer und der Bedarf ist groß“, weiß Hartmann. Oft müsse deshalb um die Unterstützung gekämpft werden oder sie werde nicht bewilligt. Der Satz, den die Jugendämter für die Schulbegleitung zahlen, habe sich seit 14 Jahren nicht verändert. Viele Eltern müssten deshalb noch dazuzahlen.

„Ulrich war der erste, dem ich wirklich vertraut habe“

Tobias gehört zu Hartmanns Erfolgsgeschichten, aber auch mit ihm hat er sehr herausfordernde Zeiten durchlebt. Er erinnert sich vor allem an eine Klassenfahrt nach England, auf der er ihn begleitet hat. „Da ging’s Tobias dreckig, da hatte er eine hochsuizidale Phase – und wir sind auf Burgen und Türme gestiegen und waren auf der Fahre“, erzählt Hartmann. Auf dieser Reise war er deshalb ständig in Unruhe. „Das war die schwärzeste Phase in meinem Leben“, bestätigt Tobias. Er habe sich dabei von einem Freundeskreis leiten lassen, von dem er sich jedoch lossagen konnte. Über neue Freunde, Erfolge und Lob in der Schule fand er wieder Lebensmut.

„Ulrich war der erste, dem ich wirklich vertraut habe. Mit ihm habe ich gelernt, wie ich mit mir selbst umzugehen habe“, sagt Tobias. Das galt vor allem für Konfliktsituationen mit Lehrkräften oder Mitschülern, nach denen für ihn mehrfach „der Schultag gegessen“ war: „Ich habe gelernt, wie ich aus diesen Situationen herauskomme.“Empathie ist für Tobias nicht nur ein Fremdwort, sondern auch ein unbekanntes Gefühl. Er kann sich selbst nicht in andere Menschen hineinversetzen, hat aber gelernt, wie er mit deren Emotionen besser umgehen kann. „Uli hat als Erster verstanden, was ich wirklich brauche, und konnte sich in mich reinversetzen. Er ist eher mal einen Schritt zurückgegangen und hat deeskaliert“, erinnert sich Tobias.

Autismus wird oft begleitet von ADHS oder Angststörungen. Wenn die damit verbundenen körperlichen Symptome wie Zittern, Schweißausbrüche oder gesteigerter Bewegungsdrang auftreten, müsse man als Begleiter erst mal vor allem ruhig bleiben, erklärt Hartmann. Über 70 Prozent der begleiteten Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg erhalten Unterstützung durch Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter wegen psychischer Beeinträchtigungen, von denen Autismus mit etwa 60 Prozent den größten Anteil ausmacht. Ein gestörtes Sozialverhalten hatten zu Beginn der Erhebung knapp 20 Prozent, der Anteil von ADHS ist innerhalb der vergangenen zehn Jahre von 20 auf rund 40 Prozent gestiegen. Wegen körperlicher und geistiger Behinderungen werden deutlich weniger Mädchen und Jungen in der Schule begleitet.

Als das Jugendamt Hartmanns Hilfe für Tobias in der 10. Klasse nicht mehr bewilligte, war das für ihn zunächst ein Schlag ins Gesicht. Er bekam jedoch eine Schulbegleiterin aus dem Pool eines Dienstleisters, wurde auch am Berufskolleg für Informatik noch sporadisch unterstützt, versuchte aber immer häufiger, allein klarzukommen. Das funktionierte immer besser. „Man ist immer in einer Sondersituation, hat einen Stempel, dass etwas nicht stimmt“, sagt Tobias. Diesen Stempel wollte er ablegen.

Seinen Abschluss zur Fachhochschulreife hat er allein geschafft, die Bewerbungen danach selbst geschrieben und auch die Ausbildung zum Fachinformatiker für Systemintegration ohne externe Hilfe gestemmt. Jetzt kann er sich vorstellen, als Ausbilder im IT-Bereich tätig zu sein – „aber das ist ein Zukunftsgespinst.“

Schulbegleiter

Das seit 2013 bestehende Programm Schulbegleiter der Baden-Württemberg Stiftung ist ein wichtiger Baustein, um eine zentrale Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention in Baden-Württemberg umzusetzen: die Möglichkeit des gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderung in allgemeinbildenden Schulen. Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter unterstützen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit einer geistigen, seelischen oder körperlichen Behinderung, indem sie ihnen in Schule, Ausbildung und Alltagssituationen helfen. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Uniklinik Ulm hat im Auftrag der BW Stiftung ein Curriculum zur Fortbildung von Schulbegleiterinnen und Schulbegleitern entwickelt, erprobt und evaluiert, das in zwölf Modulen theoretische und fachliche Inhalte vermittelt und interaktiv auch praxisrelevante Aspekte behandelt. Das Curriculum steht seit 2017 zur Verfügung. Seit 2022 gibt es auch eine Version für Online-Fortbildungen.

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