Talent im Land

Ein Netzwerk fürs Leben

Seit 20 Jahren unterstützt Talent im Land junge Menschen, die auf ihrem Weg zum Abitur oder zur Fachhochschulreife außergewöhnliche Herausforderungen zu bewältigen haben. Wie diese Erfahrung das Leben prägt und was das Programm wirklich ausmacht, erzählen zwei, die es am besten wissen: der Alumnus Viktor Bindewald (38 Jahre) und die Stipendiatin Ayda Al-Khafadji (14 Jahre). Dabei schauen sie aus unterschiedlichen Blickrichtungen auf das Programm: Während Ayda Al-Khafadji das Programm gerade erst entdeckt, ist Viktor Bindewald fast von Anfang an mit dabei.

Sabine Fischer

Mit eurer Teilnahme und eurem Engagement prägt ihr Talent im Land mit, sei es erst seit Kurzem oder schon seit vielen Jahren. Was bedeutet das Programm für euch?

Ayda Al-Khafadji Ich bin seit diesem Jahr Stipendiatin bei Talent im Land oder TiL, wie wir es meistens nennen. Eine Sache ist mir dabei besonders aufgefallen: Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich mich in dem Programm so angenommen fühle – genau so, wie ich bin und mit allem, was ich mitbringe.

Viktor Bindewald Das nehme ich ähnlich wahr. Ich war damals Teil des zweiten Jahrgangs von TiL und weiß noch, dass mir ziemlich mulmig war, als ich zu meinem ersten Treffen gefahren bin. Ich bin eher ein introvertierter Mensch und habe mir Sorgen gemacht, weil so viele Leute da sein würden, die ich nicht kenne. Vor Ort hat mich die Atmosphäre dann aber völlig überwältigt: Alle haben sich ehrlich für einander interessiert. Es gab keinen Raum für Vorurteile. Gerade wenn man einen Migrationshintergrund hat oder sozial benachteiligt ist, ist dieses Gefühl nicht selbstverständlich.

A.A. Stimmt, ich habe sonst oft das Gefühl, dass man sich im Alltag stärker beweisen muss als andere und gegen Vorurteile ankämpft. Zum Beispiel sind meine Eltern zwar aus dem Irak ausgewandert, aber ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Trotzdem werde ich ständig gefragt, wo ich denn ursprünglich herkomme.

V.B. Diesen unterschwelligen Rassismus kenne ich gut. Ich werde heute noch regelmäßig gelobt, wie gut ich Deutsch spreche. Dabei habe ich die Sprache schon gelernt, als ich zwölf Jahre alt war. Damals bin ich mit meinen Eltern aus Kasachstan nach Deutschland ausgewandert, erst in Brandenburg und dann in Baden-Württemberg gelandet. Die ersten Deutschkenntnisse habe ich mir selbst beigebracht – mithilfe eines DDR-Lehrbuchs, das ich in den Sommerferien vor der Übersiedlung gelesen habe.

A.A. Das klingt herausfordernd. So eine schwierige Geschichte habe ich nicht erlebt. Gerade deshalb hätte ich auch nie damit gerechnet, bei Talent im Land aufgenommen zu werden.

V.B. Mit dem Gefühl bist du nicht allein. Ich habe viele Stipendiatinnen und Stipendiaten getroffen, die geglaubt haben, andere würden die Förderung mehr verdienen als sie selbst – und das, obwohl sie teils sehr schwierige Fluchtgeschichten oder sonstige Hürden auf ihrem Lebensweg haben. Ich glaube, das liegt daran, dass man hier gut aufeinander achtet.

A.A. Finde ich auch. Talent im Land schafft einen Raum, der mit Migration und sozialer Benachteiligung gut umgeht. Während des Ramadans gab es zum Beispiel ganz selbstverständlich Essen, das zum Fastenbrechen zubereitet wird. So was weiß ich sehr zu schätzen.

Wie hat sich euer Leben durch das Stipendium denn verändert?

V.B. Als ich mich beworben habe, wusste ich ehrlich gesagt gar nicht, was auf mich zukommen würde. Damals gab es noch kein umfassendes Infomaterial oder Imagefilme über das Programm, die ich mir hätte anschauen können. Meine Lehrerin kam damals mit dem Vorschlag auf mich zu. Ich habe ihr vertraut und mich beworben – dass diese Entscheidung mein Leben so prägen würde, hätte ich nie gedacht.

A.A. Ich auch nicht. Meine Geschwister waren vor mir bei TiL und haben mir regelmäßig vorgeschwärmt, wie toll der Zusammenhalt dort ist und wie viel die Seminare und Workshops ihnen geholfen haben, gut durch die Schulzeit zu kommen. Ich habe immer gedacht, sie übertreiben ein bisschen. Ich konnte mir das nicht vorstellen.

V.B. Und? Haben sie übertrieben?

A.A. Nein, gar nicht. Man muss es nur selbst erleben. Talent im Land hilft mir in vielen Bereichen. Ich habe neulich zum Beispiel einen Workshop zum Thema „Lernstrategien“ besucht und konnte die danach direkt anwenden: Ich habe bei der nächsten Arbeit eine bessere Note geschrieben als normalerweise.

V.B.  Mich hat das Programm während meiner Schulzeit auch gut unterstützt. Einige Inhalte meiner Seminare sind mir bis heute im Kopf geblieben. Ein Gastdozent in unserem Workshop „Abi und dann?“ hat zum Bei spiel mal gesagt: „Wenn man sich auf etwas bewirbt und ausgewählt wird, heißt das nicht, dass man besser ist als jemand anderes. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Plätzen: Du darfst nicht glauben, dass du deshalb jemandem überlegen bist.“ Das hat mich wirklich geprägt.

A.A. Viele Sachen würde ich ohne TiL nicht kennenlernen. An einem Schulaustausch nach Ibiza, um Spanisch zu lernen, kann ich nur teilnehmen, weil das Programm einen Teil der Finanzierung übernimmt. Sonst wäre so etwas für mich nicht möglich. Die monatliche Stipendienpauschale hilft mir sehr und hat einen riesigen Einfluss auf mein Leben.

V.R. Fast genauso sehr prägt aber auch das Netzwerk mein Leben, das aus Talent im Land entstanden ist – und das bis heute.

A.A. Das geht mir auch so. Das Programm gibt mir das Gefühl, mit Menschen in Kontakt zu sein, die mich in allen Bereichen unterstützen und auffangen. Ich kann immer jemanden ansprechen und meine Sorgen werden ernstgenommen. Vor Kurzem hatte ich zum Beispiel Probleme, mich für einen Praktikumsplatz zu entscheiden. Also habe ich mich an das TiL-Büro gewandt und um Unterstützung gebeten. Gemeinsam haben wir das Institute for Legal Transformation gefunden, wo ich mich dann beworben habe. Das hat total gut funktioniert und kurz darauf hatte ich eine Zusage für ein Praktikum.

V.B. Dass man immer jemanden hat, den man fragen kann, ist wirklich wert voll. In meiner Familie zum Beispiel war meine Schwester die Erste, die studiert hat. Ich bin der Zweite. Es gibt nicht viele Leute, die ich um Unterstützung hätte bitten können. Dass ich hier bei TiL Menschen hatte, die ich ansprechen konnte, war für mich super – und meine Eltern hat das auch sehr beruhigt. Sie wollten mich unterstützen, wussten aber nicht, wie das System hier funktioniert. Das, was du mit den Ratschlägen sagst, Ayda, nehme ich inzwischen übrigens auch immer mehr aus der anderen Perspektive wahr.

A.A. Wie meinst du das? Weil jetzt dich Leute um Rat fragen?

V.B. Genau. Ich habe nach dem Abitur Mathematik und Informatik studiert. Heute melden sich Stipendiatinnen und Stipendiaten von Talent im Land bei mir, wenn sie Infos rund um das Studium haben wollen. Ich mache das gerne und glaube, es hilft den Leuten weiter. Oder ein anderes Bei spiel: Das Programm bietet allen Teil nehmenden eine Laptoppauschale – ich kenne mich damit gut aus und berate gerne, welcher Laptop am besten für welche Zwecke geeignet ist. Ich finde es schön, so etwas zurückgeben zu können.

A.A. Den Austausch mit den anderen Stipendiatinnen und Stipendiaten schätze ich auch sehr. Wir haben Seminare, die jahrgangsübergreifend sind und solche, die innerhalb unseres Jahrgangs stattfinden: Alle Menschen, die ich da bisher getroffen habe, sind wahnsinnig motiviert und wollen das Beste aus ihrem Leben machen. Wir haben alle ähnliche Geschichten, schauen ähnlich auf die Welt: Wir wollen uns nicht unterkriegen lassen.

Gibt es denn auch etwas, was Talent im Land aus eurer Sicht in Zukunft noch besser machen könnte?

A.A. Es bräuchte eigentlich nur mehr Geld und mehr Plätze, dass noch mehr Stipendiatinnen und Stipendiaten aufgenommen werden können.

V.B. Das sehe ich auch so. Ich bin seit zwei Jahren als einer von zwei Alumni Teil der Auswahljury und suche die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für den kommenden Jahrgang mit aus: Das ist ein schwieriger Prozess, ich würde gerne mehr jungen Menschen die Möglichkeit geben, Teil von TiL zu werden. •

Talent im Land 

Der Bildungserfolg junger Menschen hängt häufig noch immer von der sozialen und wirtschaftlichen Lage ihrer Eltern ab. Seit 2003 unterstützt das Stipendienprogramm Talent im Land der Baden-Württemberg Stiftung Schülerinnen und Schüler auf ihrem Bildungsweg, die aufgrund ihrer Biografie oder ihrer sozialen Herkunft besondere Hürden überwinden müssen. Neben einer monatlichen finanziellen Unterstützung bietet das Programm ein vielfältiges Workshop- und Seminarangebot sowie individuelle Beratung für die Teilnehmenden.

Mehr zum Programm
Talent im Land